Wiener Requiem
aufzusuchen. Lass uns einfach einmal annehmen, jemand wäre in der Lage, die Symptome von Leberkrebs durch ein Gift oder eine Droge hervorzurufen.«
Berthe antwortete darauf nicht. Stattdessen sagte sie: »Ich kann nicht mehr auf der Seite schlafen.«
»Unwohlsein?«
»Allerdings. Und Sodbrennen. Warum spricht man eigentlich von Morgenübelkeit? Mir ist ganz einfach Tag und Nacht schlecht.«
»Mein armer Liebling.« Liebevoll strich er ihr durchs Haar, aber sie schüttelte ihn ab.
»Ich bin kein armes Was-auch-Immer, aber mein Körper hat mich bisher noch nie so im Sich gelassen.«
»Das tut er doch auch jetzt nicht, er bereitet nur ein neues Leben vor.«
»Indem er mir eine derartige Übelkeit verursacht, dass ich nicht einmal mehr etwas essen kann? Wenn man an die Darwinsche Lehre glaubt, muss man zugeben, dass sich hier im evolutionären Prozess eine Falte gebildet hat, die man besser mal ausbügeln sollte.«
Sie lagen noch für einen Moment still beieinander.
»Ich werde die Spuren, die vom Konservatorium zu Mahler führen, weiterverfolgen«, sagte sie schließlich.
»Ja, tu das. Ich glaube, das ist eine gute Idee.«
»Ich habe dich nicht um eine Erlaubnis gebeten!«
Als er nichts darauf erwiderte, fügte sie hinzu: »Tut mir leid. Man sagt, dass Frauen in den ersten Wochen der Schwangerschaft sehr launisch sind. Noch so ein evolutionärer Vorteil, vermute ich.«
Beim Frühstück erfuhren sie, dass Gross bereits aufgestanden war und gefrühstückt hatte – zwei Eier, ein süßes Brötchen und zwei Tassen Kaffee, berichtete Frau Blatschky, die sich offensichtlich ein wenig ausgenutzt fühlte – und dann zu seinem morgendlichen Spaziergang aufgebrochen war.
»Er sagte, er würde um neun Uhr zurück sein«, sagte die Köchin, als sie die Kaffeekanne aus Augartener Porzellan hereinbrachte und den Raum mit dem reichen Aroma frischen Kaffees erfüllte.
Berthe wartete, bis Frau Blatschky die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Allein schon von diesem
Geruch
wird mir ganz übel!«, rief sie dann.
Werthen legte seine Serviette über die Kaffeekanne, um zu verhindern, dass der Duft sich noch weiter ausbreitete. Nach einem Moment ging es Berthe wieder besser, und sie konnten ihre Pläne für den Tag besprechen.
Gross und er hatten einen Termin mit Hanslick vereinbart. Es führten recht viele Spuren zu dem Kritiker. Kraus zufolge war er ein entschiedener Gegner sowohl von Bruckner als auch Strauß. Kann Überdruss an Musik wirklich zu einem Mord führen? Werthen wusste es selber nicht, aber bei seiner kurzen Begegnung mit dem Kritiker auf dem Begräbnis von Strauß hatte dieser einen äußerst reizbaren Charakter gezeigt. Doch was konnte Hanslick mit dem Tod von Brahms zu tun haben? Immerhin waren die beiden sehr eng miteinander befreundet gewesen.
Werthen hatte nach dem Treffen mit Kraus am gestrigen Nachmittag in der Kaiserlichen Bibliothek seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte sich durch die Kritiken der letzten zehn Jahre gearbeitet, die in der
Neuen Freien Presse
erschienen waren, und festgestellt, dass Hanslick kurz vor Brahms’ Tod eine ganze Reihe von Kritiken zu den letzten Klarinettenquintetten des Meisters geschrieben hatte. Hierin beklagte er, dass Brahms die klassischen Ideale mit dieser so emotionalen Musik verraten hätte. Hinzu kam nun die Geschichte, die Kraus gestern zumBesten gegeben hatte. Demnach hatte sich nämlich Brahms verächtlich über Hanslicks Traktat geäußert – und wenn Kraus Wind von dieser Geschichte bekommen hatte, warum nicht auch Hanslick selbst? War dem so, könnte man in der Tat Hanslick mit dem Tod von allen drei Komponisten in Verbindung bringen.
Hanslick war ebenfalls kein Anhänger Mahlers. Eigentlich erstaunlich angesichts der Stellung, die Mahler in der Auseinandersetzung zwischen Brahms und Wagner bezogen hatte, und tatsächlich hatte Hanslick auch Mahlers Ankunft in Wien 1897 zunächst sehr begrüßt. In seinen ersten Besprechungen hatte er die Texttreue des Komponisten und Dirigenten gepriesen, sowohl bei Wagner als auch bei Mozart. Aber dieser Enthusiasmus wich schon bald der bekannten Boshaftigkeit; in jüngeren Aufzeichnungen, die Werthen am vorangegangenen Tag entdeckt hatte, verriss Hanslick Mahlers Arbeit an der Hofoper. Er gab sich entsetzt, dass Mahler die jahrhundertealte Tradition der Hofoper mit unklugen und ungestümen Experimenten an die Moderne verriet.
Es gab also viele Gründe für ein Gespräch mit Hanslick, vor allem galt es
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