Wiener Requiem
erneut Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Herr, und diesmal unter so viel erfreulicheren Umständen.«
Er verschwand, bevor der perplexe Werthen etwas erwidern konnte.
»Wissen Sie, Gross«, sagte Werthen, nachdem Hanslick das Café verlassen hatte, »ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mensch unserer Lehrbuchgeschichte auch nur ansatzweise Glauben schenkte.«
»Ich stimme Ihnen zu, Werthen. Eine sehr scharfsinnige Charaktereinschätzung, würde ich sagen.«
»Aber warum haben wir die Farce denn fortgeführt?«
»Das war wohl kaum eine Farce, mein lieber Werthen. Unsere Geschichte war vielleicht ausgedacht, aber unsere Legitimation durch den Prinzen Montenuovo ist es nicht. Wir können davon ausgehen, dass er unsere Glaubwürdigkeit überprüft hat, bevor er dieser Unterhaltung zustimmte. Nein, Herr Hanslick ist kein Dummkopf. Er war sich sicher über unsere wirklichen Beweggründe, nämlich die Klärung seiner Beziehungen zu Bruckner und Strauß, im Klaren, und er hat uns klugerweise sofort die erwünschten Antworten gegeben.«
»Aber können wir ihm glauben?«
»Es ist Ihre Ermittlung, Werthen.«
»Verdammt, Gross, müssen Sie sich denn immer so zänkisch aufführen?«
Der Kriminologe hob die Brauen.
»Also gut«, lenkte Werthen ein. »Ich denke, wir können ihm trauen. Er mag voreingenommen sein, aber ich habe auch eine gewisse Ernsthaftigkeit in seinen Gefühlen wahrgenommen, vor allem, was Strauß anging.«
Gross nickte. »Außerdem können wir seinen Nachruf in der
Neuen Freien Presse
überprüfen. Aber ich habe ebenfalls nicht den Eindruck, dass er gelogen hat.«
»Ich denke, wir sollten ihn vorläufig von unserer Liste der Verdächtigen streichen.«
Herr Otto servierte ihnen zwei Gläser Wasser und nickte dabei ernsthaft.
»Herr Hanslick ist so etwas wie eine Legende«, erklärte der Oberkellner.
»Zählt er zu Ihren Stammgästen?«, erkundigte sich Werthen.
Herr Otto nickte. »Er sitzt normalerweise an genau diesem Tisch. Häufig in Gesellschaft seines Kollegen, Herrn Kalbeck.«
Er spricht von Hans Kalbeck, dachte Werthen, dem Musikkritiker des
Neuen Wiener Tagblatts
und Freund von Brahms. Von ihm hatte Kraus erfahren, wie wenig Brahms das Musiktraktat von Hanslick gefallen hatte.
»Sie sind Kollegen, sagen Sie?«
Herr Otto nickte erneut. »Sie treffen sich hier mindestens zwei- bis dreimal in der Woche. Dabei tauschen sie sich über die Artikel aus, die sie geschrieben haben. Herr Kalbeck ist übrigens hier gewesen, Minuten bevor Sie eintrafen. Heute jedoch haben sie nicht über ihre Artikel gesprochen. Die beiden haben die Köpfe zusammengesteckt und wie Verschwörer miteinander geflüstert. Als ich den Kaffee brachte, haben sie ihr Gespräch unterbrochen und erst weitergeredet, als ich außer Hörweite war.«
Das könnte durchaus etwas mit unserem Treffen zu tun gehabt haben, dachte Werthen.
»Sagen Sie mir, Herr Advokat. Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Fall? Und sind Sie deshalb hier? Ist es vielleicht eine Angelegenheit, in der Herr Hanslick eine Rolle spielt?«
Werthen war sehr erstaunt über das Vergnügen, das Herr Otto offensichtlich bei seinen Fragen empfand.
»Genau wie dieser englische Gentleman, nicht wahr?«, sagte Otto. »Er raucht Pfeife, spielt Violine und fasst dann den Schuldigen.«
Gross räusperte sich bei dieser Bemerkung verärgert, denn er beharrte noch immer darauf, dass Arthur Conan Doyle dieFigur des Sherlock Holmes aus einer von Gross’ eigenen früheren Schriften gestohlen hatte.
»Ich bin ganz und gar nicht wie dieser englische Gentleman, das versichere ich Ihnen«, erwiderte Werthen hastig.
Herr Otto wartete noch einen Moment, als hoffte er, dass Werthen ihm auch seine anderen Fragen beantworten würde. Aber der lächelte nur.
»Wie sagt man noch?«, sagte der Ober, bevor er zu einem anderen Tisch ging. »Die beiden halten zusammen wie Pech und Schwefel. Jedenfalls haben die Herren Hanslick und Kalbeck heute genau diesen Eindruck gemacht.«
So viel zu seinen Plänen, den Nachmittag über in seinem Büro zu arbeiten. Stattdessen musste er nun unbedingt der von Herrn Otto enthüllten Spur folgen und mit Max Kalbeck sprechen.
Kalbeck war nicht in seinem Büro des
Neuen Wiener Tagblattes
, und der Redakteur wusste auch nicht, wann er zurück sein würde.
»Max bestimmt seine Arbeitszeit selbst«, erklärte der Mann rundheraus. Offensichtlich hatte Kalbeck eine sehr enge Beziehung zum Herausgeber der Zeitung – seine Mutter war die
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