Wiener Requiem
Erklärung. Es sei denn, Sie wären gerade mit einer heiklen Sache, einem strittigen Testament zum Beispiel, beschäftigt.«
Werthen schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Denn statt einer Trommel spielte jetzt eine Kesselpauke in seinem Schädel. Er schloss die Augen und strich sich über die Nase.
»Nein«, brachte er schließlich heraus. »Es gibt im Augenblick nichts dergleichen.«
»Dann liegt es doch wohl auf der Hand, möchte ich sagen. Aber was zum Teufel könnte er gesucht haben? Bewahren Sie hier auch private Unterlagen auf?«
»Nein«, sagte Werthen wieder. Plötzlich hämmerte sein Herzvor Furcht. »Meine Notizen über unsere Untersuchung sind zu Hause. Mein Gott, Gross! Vielleicht ist er jetzt dorthin gegangen? Berthe …«
»Schnell, schnell!« Gross packte Werthens linken Arm und half ihm. »Wir haben keine Minute zu verlieren.«
Nach den ersten Schritten ließ das Schwindelgefühl etwas nach. Der erste Treppenabsatz war noch qualvoll, aber dann konnte Werthen mit dem Schmerz umgehen. Als sie an der Pförtnerloge vorbeikamen, erkannte Frau Ignatz seinen Zustand und trat hastig an die Tür.
»Herr Advokat, was ist los? Ist das Blut?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, meine Teure«, erwiderte Gross schroff.
Aber ihre Sorge galt gar nicht Werthen.
»Ich wusste ja, dass es Ärger geben würde. Ihr neues Türschild … Das zieht doch das ganze Wiener Gesindel nur so an. Und jetzt auch noch das. In meinem Haus!«
Sie drehte sich um und schlug die Tür ihrer Kammer hinter sich zu, bevor Gross oder Werthen auch nur antworten konnten.
Sie hatten Glück, denn auf der Straße fuhr gerade ein freier Fiaker vorbei. Auf der Fahrt in die Josefstadt zu seiner Wohnung versuchte Werthen sich selbst mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Berthe geplant hatte, nach einem kurzen Abstecher ins Büro Viktor Adler zu besuchen. Sie würde nicht zu Hause sein, sie wäre also in Sicherheit. Er musste fest daran glauben, ganz fest.
Aber was war mit Frau Blatschky? Hatte er auch sie in Gefahr gebracht?
Der Fiaker wurde aufgehalten, da eine der neuen elektrifiziertenStadtbahnen ins Stocken geraten war und nun die ganze Kreuzung an der Langegasse blockierte. Der Verkehr staute sich in allen Richtungen.
Gross schlug mit seiner Faust gegen das Dach des Fiakers. »Suchen Sie einen anderen Weg, Mann. Wir haben hier einen Notfall!«
Der Fahrer murmelte etwas von Schwangerschaft. Das war wohl einer dieser typischen Wiener Scherze, aber Werthen war im Moment keineswegs nach Scherzen zumute.
»Fünfzig Kreuzer, wenn Sie uns aus diesem Chaos herausbringen!«, rief Werthen dem Fahrer durch die Scheibe zu.
Diesmal gab es keine geistreiche Bemerkung; der Fahrer riss die Pferde nach links. Es krachte und polterte, als der Fiaker ein Stück über den Gehweg rumpelte. Dann holperte er auf die gepflasterte Straße und bog in eine Nebengasse ein, um die blockierte Kreuzung zu umgehen. Der Mann trieb die Pferde an, als wäre er ein Jockey auf dem Freudenauer Rennplatz im Prater. In null Komma nichts hatten sie den Stau umfahren und fuhren kurz danach vor Werthens Wohnhaus in der Josefstädterstraße vor.
Werthen sprang hastig aus dem Fiaker und überließ diesmal Gross die Bezahlung der Fahrt wie auch des hohen Trinkgeldes.
Er ignorierte den Fahrstuhl und sprang stattdessen die Treppe hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal, ohne auf den Schmerz in seinem Hinterkopf und sein verletztes rechtes Knie zu achten. Er flog geradezu die Treppen hinauf, gefolgt von dem keuchenden Gross.
Oben angekommen, drückte er die Klinke hinunter, aber es war – wie es auch sein sollte – abgeschlossen. Eilig öffnete erdie Tür mit seinem Schlüssel, riss sie auf und schrie: »Frau Blatschky!«
Es blieb still, und einen Moment überkam Werthen Panik; er befürchtete schon das Schlimmste. Dann sah er sich in der Diele um. Die Wohnung machte einen unberührten Eindruck.
Gross kam nun schwer atmend herein, und gemeinsam gingen sie Richtung Wohnzimmer.
Eine plötzliche Bewegung hinter ihnen ließ sie beide zusammenfahren.
»Sie müssen wirklich leiser sein, Herr Advokat.«
Frau Blatschky stand im Flur.
»Da sind Sie ja«, sagte Werthen.
»Ja, natürlich bin ich hier. Und Ihre liebe Frau, die zukünftige Mutter, ebenfalls.« Sie strahlte geradezu bei diesen Worten. »Sie hätten es mir sagen müssen. Die arme Frau kann das reichhaltige Essen jetzt doch gar nicht mehr vertragen. So geht’s nicht weiter. Ich habe sie ins Bett gebracht, denn da
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