Wiener Requiem
abstoßend. Die Natur dieses Werkes besteht eigentlich in nichts anderem als der Anwendung von Wagners dramatischem Stil auf die sinfonische Form.«
»Und das Werk Wagners ist …« Gross suchte nach dem richtigen Ausdruck.
»Übertrieben dramatisch?«, schlug Hanslick vor. »Missver stehen Sie mich nicht. In meiner Jugend war ich ein aufrichtiger Anhänger Wagners, und ich schätze seine Musik noch immer. Es ist allein die dahinterstehende Theorie, die ich ablehne. Ich habe einmal sogar geschrieben, dass mich das Vorspiel zu
Tristan und Isolde
an ein altes italienisches Gemälde eines Märtyrers erinnert, dessen Gedärme langsam aus seinem Körper quellen. Aber das gilt nicht für das ganze Werk Wagners und ist auch nicht meine Gesamteinschätzung. Für Wagner war die Musik ein Instrument, um Dramen zu zeigen und Gefühle hervorzurufen. Aber Musik sollte nicht auf der Gefühlsebene verstanden werden. Es ist nicht grundlegend für Musik, Gefühle auszudrücken. Nein, meine Herren, der wahre Wert der Musik liegt in der formalen Ästhetik der Musik selbst, nicht im Ausdruck von außermusikalischen Gefühlen.«
Werthen beobachtete Hanslick sehr genau, während dieser mit Gross in einer Weise sprach, die Werthen nur als verhalten enthusiastisch oder gedämpft emotional beschreiben konnte. So mussten wohl auch seine Vorlesungen an der Universität klingen. Mahler hatte ihm erzählt – Mahler hatte als Student Hanslicks Vorlesungen besucht –, dass er gewöhnlich am Rednerpult stand und seinen Vortrag vom Blatt praktisch in seinen Bart hineinmurmelte. Er war wohl kaum verständlich gewesenund sprach mit einer monotonen, hohen, »einschläfernden, aber nicht unangenehmen« Stimme, wie Mahler es ausdrückte. Verdeutlichte er etwas am Klavier, bewegten sich seine kleinen Hände und Finger geschwind und achtsam über die Tasten, wobei sein Körper mit der Musik mitschwang und er den Takt mit dem Fuß klopfte. Er spielte dabei immer frei aus dem Gedächtnis. Mahler empfand diese Lesungen als sehr komisch anzuschauen, aber keinesfalls als unmusikalisch.
Werthen fiel ein, dass Hanslick zuallererst ein ausgebildeter Jurist war. Er war daher sicherlich in der Lage, Argumente überzeugend zu präsentieren.
»Falls Sie meine Totenrede für Strauß gelesen haben, dürften Sie mich kaum für einen Feind seiner Musik halten«, sagte Hanslick. »In meinem Nachruf in der
Neuen Freien Presse
betrauerte ich seinen Tod als den Verlust einer unserer größten eigenständigen Musikerbegabungen.«
Sowohl Werthen als auch Gross konnte ihre Verwunderung hier kaum verbergen.
»Oh, ich weiß«, sagte Hanslick, als er ihr Erstaunen bemerkte. »Jeder zitiert gern meine Worte, dass seine Melodien die Menschen für die ernste Musik verdürben. Was die meisten jedoch nicht berücksichtigen, ist die Tatsache, dass ich diesen Vorwurf seinerzeit seinem Vater machte und damals noch sehr jung und ein sehr streitbarer Kritiker war, der sich einen Namen machen wollte. Dennoch habe ich auch den Tod von Johann Strauß dem Älteren betrauert und geschrieben, dass Wien einen seiner begabtesten Komponisten verloren hat. Den Sohn, Johann den Jüngeren, habe ich immer bewundert. Sein Rhythmus pulsiert mit lebhafter Vielfältigkeit, die Quellen, aus denen er seine Melodien schöpfte, waren ebenso fein wie unerschöpflich.Er war ein sehr vornehmer Mann und eines der letzten großen Symbole einer erfreulichen Zeit, die jetzt zu einem abrupten Ende kommt. Wir stehen, wie Ihnen natürlich ebenfalls bewusst ist, an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert. Uns bleiben nur noch Monate in diesem eleganten Jahrhundert, dessen Kinder wie alle sind. Und wer weiß schon, welches Grauen uns nach der Mitternacht des 31. Dezember 1899 erwartet.«
»Ja, das ist wohl wahr«, pflichtete Gross ihm bei.
»Wohlgemerkt, ich versuche nicht, mich ›zu verkaufen‹, wie die Amerikaner sagen«, fuhr Hanslick fort. »Es wäre mir wirklich eine Ehre, meine Gedanken zu dem Projekt des Prinzen beizusteuern. Ich erzähle Ihnen all dies nicht, um mich bei Ihnen anzubiedern, sondern nur weil es mir außerordentlich missfällt, falsch verstanden und falsch zitiert zu werden.«
Er trank seinen Kaffee aus und strich glättend mit dem Zeigefinger über die Enden seines Schnurrbartes.
»Und nun, meine Herren, muss ich Sie leider verlassen. Ich habe noch eine Vorlesung für den Nachmittag vorzubereiten.«
Als er ging, sah Hanslick Werthen scharf in die Augen.
»Es war mir ein Vergnügen,
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