Wiener Requiem
letzen Mal gesehen hatte.
Als Herr Otto sich umwandte, erkannte er Werthen ebenfalls und nickte ihm höflich zu, als dieser sich zusammen mit Gross dem Tisch von Hanslick näherte.
»Einen schönen guten Tag, Herr Advokat«, sagte der Ober mit einem leichten Grinsen auf seinem Gesicht.
»Und wie geht es Ihnen, Herr Otto? Sie haben das Lokal gewechselt, stelle ich fest.«
Da die Herren keine schweren Wintermäntel trugen, die er ihnen hätte abnehmen können, wartete er auf ihre Sommerhüte und nahm sie fast mit Ehrfurcht entgegen.
»Vielen Dank, Herr Advokat, vielen Dank.«
»Sie werden also nicht ins
Landtmann
zurückkehren?«
Herr Otto schüttelte nachdrücklich seinen Kopf. »Nicht in diesem Leben. Kein Vertrauen mehr. Eine schreckliche Sache. Die Angelegenheit war wirklich schrecklich, aber zum Glück haben Sie sie ja für mich ganz ausgezeichnet geregelt.«
Eigentlich habe ich nur ganz kurz eingegriffen, überlegte Werthen. Herr Otto, vormals der Oberkellner des
Café Landtmann
und so etwas wie eine lokale Legende, hatte seine Stellung verloren, weil man ihn des Diebstahls verdächtigte. Ein anderer Ober, Herr Turnig, hatte sich mit der Behauptung an die Geschäftsführung gewandt, er hätte verschiedentlich beobachtet, dass Otto vor der Endabrechnung Geld aus der Kasse genommen hätte. Da Turnig ein Cousin der Frau des Geschäftsführers war, wurde seinem Wort Gehör geschenkt. Herr Otto war entlassen worden, und in der Folge war Herr Turnig selbst der Oberkellner geworden.
Werthen hatte Herrn Otto damals schon über Jahre gekannt. Als er von seinen Schwierigkeiten hörte, war er felsenfest von dessen Unschuld überzeugt und nahm sich vor, die Angelegenheit aufzuklären. Zu dieser Zeit erholte er sich noch von seiner Beinverletzung, wollte aber dennoch gern weiter ermitteln. Die Sachlage war ziemlich einfach, denn Herr Otto war nicht schuldig, also hatte Herr Turnig die Anschuldigungen erfunden und das Geld, eine Summe von immerhin mehreren tausend Kronen, vermutlich selbst gestohlen. Das offensichtliche Motiv war neben der Geldgier vor allem Ehrgeiz gewesen. Die Schande, die zu Herrn Ottos Entlassung geführt hatte, beförderte Turnig wiederum auf dessen Position im noblen
Café Landtmann
.
Werthen hatte zunächst im Privatleben des Herrn Turnig ermittelt und schnell herausgefunden, dass dieser weit über seine Verhältnisse lebte. Er residierte in einer weitläufigen Wohnung im Ersten Bezirk und konnte sich zudem noch ein Chalet für den Sommer in Carinthia leisten.
Als Werthen ihn in einer gezielten Befragung mit diesen Fakten konfrontierte, brach Herr Turnig schnell zusammen. Er floh lieber, als zu warten, dass die Polizei an seiner Tür auftauchenwürde, und es wurde kolportiert, dass er nun als Kellner in Florenz arbeitete, außerhalb der Reichweite der österreichischen Behörden.
Der gute Ruf von Herrn Otto war wieder hergestellt worden, und er wurde Oberkellner im
Cafémann Frauenhuber
; für Werthen ein weiterer guter Grund, nun dieses zu seinem Lieblingskaffeehaus zu machen.
Herr Otto nahm Werthens Hand und schüttelte sie nachdrücklich.
»Wenn ich Sie kurz stören darf, mein Herr, ich möchte mich bei Ihnen tausendfach bedanken. Und meine Frau schließt sich meinem Dank sehr herzlich an. Für Sie und Ihren Freund das Übliche, nehme ich an?«
Werthen nickte.
Ihr kleines Gespräch hatte nur wenige Minuten gedauert, aber dennoch die Aufmerksamkeit einer Reihe von Gästen auf sich gezogen, unter anderem auch die von Hanslick. Gross, dem bekannt war, welche Hilfe Werthen dem Ober geleistet hatte, konzentrierte sich auf den Musikkritiker, und auch Werthen betrachtete nun diesen Mann.
In Hanslicks Blick zeigte sich keine Spur eines Wiedererkennens.
»Herr Hanslick?«, erkundigte sich Gross.
Der eher kleine Mann stand auf und nickte ihnen zu.
»Zu Ihren Diensten, meine Herren. Herr Dr. Gross und Herr Advokat Werthen, nicht wahr?«
Er nickte jeweils dem Falschen zu, als er ihre Namen nannte, aber Werthen stellte es kurz richtig, während sie an seinem Tisch Platz nahmen.
Gross kam sofort zur Sache.
»Vermutlich fragen Sie sich, was der Grund für unser Gespräch ist, Herr Hanslick?«
Der Kritiker lächelte schwach und machte eine zustimmende Geste mit seiner zierlichen Hand.
»Ich gebe meine Neugierde gern zu. Als Beamter der kaiserlichen Regierung stehe ich selbstverständlich für jede offizielle Anfrage zur Verfügung.«
»Ja«, sagte Gross. »Der Prinz ließ uns bereits
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