Wiener Schweigen
fallen.
Rosa war in ihrem Element und voller Elan. »Ich treffe gerade eine zeitliche Einteilung, wann die Ikonen entstanden sind.«
Liebhart goss sich Mineralwasser ein. »Ich wollte eigentlich wissen, ob du das gestrige Ereignis schon verdaut hast?«
Rosa zuckte zusammen, ihr tat jeder Knochen vom gestrigen Kampf mit Mühlböck weh. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte Schwierigkeiten zu schlucken, aber während des ganzen Tages hatte sie kaum daran gedacht.
»Wie immer ist Arbeit für mich das beste Heilmittel«, meinte sie.
Liebhart merkte, dass Rosa nicht über Mühlböck reden wollte, und wechselte das Thema. »Wie machst du das mit der zeitlichen Einteilung?«
»Durch die Bearbeitungsspuren an den Holztafeln, auf denen die Ikonen gemalt worden sind, und die Analyse der verwendeten Farben kann ich Rückschlüsse auf das Entstehungsdatum ziehen.«
Er nickte interessiert.
»Je nach Holzart und Lage im Baumstamm weisen Bretter Äste auf, die die zukünftige Bildschicht gefährden könnten. Astlöcher können nach Jahren wie ein Pfropfen aus dem Bild hervortreten. In den Niederlanden und in Frankreich war es Tafelmachern unter Androhung hoher Strafen verboten, solche Tafeln zu benützen. In anderen Ländern war man allerdings kulanter. Kleinere Löcher wurden oft verkittet. Das Material, das man dafür verwendet hat, hilft mir bei der Datierung.«
Liebhart stand auf und beugte sich über die Muttergottesikone der Familie Zieliński, die Rosa mit der Bildseite nach unten auf ein weiches Tuch auf den Tisch gelegt hatte.
»Siehst du, das sind solche Unebenheiten.« Sie gab ihm eine Lupe in die Hand. »Im 12. und 13. Jahrhundert wurden sie mit einem Kitt aus Bleiweiß, Ziegelmehl und Wachs gefüllt. Im 15. Jahrhundert mit glutinleimgebundenen Sägespänen.«
Er nickte anerkennend.
»In Russland wurde als Bildträger, das Material, auf das die Ikone aufgemalt wurde, bevorzugt Lindenholz gewählt. Die Bretter sind in der Malerwerkstatt von Zimmerleuten bearbeitet worden. Allgemein kann man sagen, je älter eine Ikone, desto gröber sind die Hobelspuren zu erkennen und desto dicker ist der Bildträger.«
Liebhart beugte sich über den Tisch und betrachtete die Ikone von der Seite, ohne sie zu berühren. »Na, dann ist die aber sehr alt.«
Sie nickte. »Das muss nicht heißen, dass sie keine Fälschung ist. Fälscher sind ja auch informiert. Nach dem Hobeln werden die Holzbretter miteinander verleimt und auf der Rückseite mit Querleisten oder anderen Verklammerungen versehen. Erst in der Spätzeit verzichtete man auf solche Querleisten.«
»Das ist hier aber nicht der Fall.«
»Genau, auch ein Zeichen, dass das Bild sehr alt ist. Schließlich mussten die Zimmerleute auf der Vorderseite die Vertiefung, im Russischen ›kovèeg‹, anbringen.«
»Um den ›kovèeg‹ war also der Rahmen der Ikone?«
»Nein, er gehört noch zur Ikone und hat Platz für die Darstellung von Heiligen geboten. ›Kovèeg‹ bedeutet ›Reliquienkästchen‹. Darin erkennt man die enge Beziehung zwischen Ikone und Reliquie«, fügte sie hinzu. »Er wurde mit mechanischen Mitteln aufgeraut, um den folgenden Malschichten Halt zu geben. Der nächste Arbeitsschritt ist für mich auch ein Hinweis, dass die Ikone aus Russland stammt. Auf die aufgeraute Malschicht ist eine Leimschicht aufgebracht worden. Diesen Leim hat man in Byzanz und Griechenland aus Tierfellen gewonnen, in Russland aus Fischleim.«
»Und hier wurde Fischleim verwandt?«
Sie nickte. »Dann hat man eine Stofflage daraufgelegt. Das ist deswegen interessant, weil Frau Tobler eine besonders wertvolle Ikone von Andrej Rublev in ihrem Keller versteckt hatte.« Rosa deutete auf eine Christusikone.
Liebharts Blick folgte ihrem Fingerzeig. »Wieso ist das interessant?«
»Man hat damals für die Stofflage Stoffe aller Art verwendet. Vom Frauenkopftuch bis zu teurem Leinen. Auf einer Ikone von Andrej Rublev hat man eine gemusterte Tischdecke gefunden.«
Liebhart lächelte. »Du lässt dir das Muster dieser Tischdecke schicken und vergleichst es mit dem Stoff, den Andrej Rublev bei der Christusikone verwendet hat.«
»Ja, vielleicht hab ich Glück. Schon möglich, dass er eine Tischdecke für mehrere Bilder benutzt hat.«
»Da hast du ja noch ganz schön viel Arbeit vor dir. Ich frage mich, ob es nicht reicht, der Familie Zieliński die Ikone einfach zurückzugeben. Das Foto ist doch Beweis genug, dass sie ihnen gehört.«
Rosa hob die Schultern. »Wir wissen ja nicht,
Weitere Kostenlose Bücher