Wiener Schweigen
auflachen.
6
Wie Rosa geahnt hatte, war die Kuchelauer Hafenstraße gesperrt. Um nach Klosterneuburg zu kommen, wo Andrzej Zieliński abgestiegen war, musste sie über die Höhenstraße fahren. Die Pension Schrattner lag nahe dem Bahnhof in Klosterneuburg.
Liebhart wartete bereits telefonierend an seinen Wagen gelehnt auf sie. Die Pensionswirtin, Frau Schrattner, grüßte Liebhart und Rosa mit einem Kopfnicken. Sie blickte geringschätzig auf Rosas bunte, zehenfreie Sommerschuhe, musterte sie dann von oben bis unten. Rosa konnte aus dem Blick, den sie ihr danach zuwarf, erkennen, dass ihr der Rest auch nicht gefiel.
Frau Schrattner bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und stieg schwer atmend eine schmale Treppe in den ersten Stock hinauf. Rosa erinnerte die Pension an die Jugendherbergen, in denen sie als Schülerin in der Landschulwoche abgestiegen war. An den Wänden hingen mit Reißzwecken befestigte verblasste Bilder, die vormals Deckel von Bonbonschachteln gewesen waren. Die Wirtin steckte den Schlüssel in die Tür des Zimmers Nummer 5 und stieß sie mit dem Fuß ganz auf.
»Wann kann ich das Zimmer wieder vermieten?« war der erste Satz, den sie an Liebhart gewandt von sich gab.
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, erwiderte er und ging einfach an ihr vorbei. »Sie dürfen auf jeden Fall nichts anfassen, bis die Spurensicherung hier fertig ist.«
Frau Schrattner blieb schnaubend am Gang stehen und beobachtete die beiden mit stechendem Blick.
»Wenn Sie da was wegnehmen, ersetze ich das nicht. Ich zahl nichts«, murrte sie.
Liebhart ignorierte sie, zog sich Plastikhandschuhe über und hielt auch Rosa ein Paar hin.
Das Zimmer war das Deprimierendste, was Rosa seit Langem gesehen hatte.
Ein Lamellenrollo hing verheddert im einzigen Fenster, das in den dunklen Fichtenwald hinter dem Haus zeigte und sich nicht vollständig schließen ließ. Ein Doppelbett stand an einer Wand, der verwaschene rosa Überwurf hatte zahlreiche Löcher und war sehr zerschlissen. In einer Ecke des Zimmers war, vor einer alten Duschtasse, ein schmutzig grauer Kunststoffvorhang an einer Stange montiert. Das kleine Waschbecken daneben hatte einen Sprung, und der Spiegel war schon fast blind. Es war sehr kalt. Da der Raum in den Wald zeigte, konnte ihn nicht einmal die Sonne aufheizen. Rosa sah keinen Heizkörper, wahrscheinlich vermietete Frau Schrattner nur während der Sommersaison.
Liebhart öffnete den kleinen Schrank, der direkt neben dem Bett stand. Die Türen gingen knarrend auf. Ein dicker Winterpullover lag neben ein paar sauberen Wäschestücken. In einem Fach hatte Andrzej einige Blätter mit Notizen, Kassabons und einen Abholschein der Post für ein Paket aufgehoben.
Der junge Mann hatte peinlich Ordnung gehalten. Auf dem Waschbecken stand in einem Wasserglas eine grüne Zahnbürste. Ein Handtuch lag zusammengefaltet auf einem Sessel daneben. Ohne sie anzufassen, sah Rosa sich die Bücher an, die auf dem Nachttisch lagen. Sie waren alle in Polnisch verfasst; sie hätte zu gern gewusst, was Andrzej gelesen hatte.
»Hatte Herr Zieliński einmal Besuch?«, erkundigte sich Liebhart bei Frau Schrattner.
»Ich hab niemanden gesehen. Der war immer allein, ist zeitig am Morgen weg und erst sehr spät wiedergekommen«, antwortete sie von draußen.
Liebhart ging zu ihr auf den Gang. »Wie viele Gäste haben Sie jetzt?«
»Drei. Das sind Saisonarbeiter, alle vom Föhrenhof.«
Draußen donnerte der Verkehr der Klosterneuburger Straße.
»Haben Sie hier sauber gemacht?«, fragte Liebhart.
»Die sollen sich selbst das Zimmer sauber halten. Das ist nicht im Preis inbegriffen. Ich mach sauber, wenn sie abreisen. Sonst hat die Arbeit hier ja nie ein Ende.«
»Aber das Geld nehmen Sie schon?«, rief Rosa auf den Gang.
»Sicher, aber ich verlang ja auch fast nichts. So ein billiges Quartier finden Sie hier sonst gar nicht mehr«, antwortete Frau Schrattner.
»Wie viel verlangen Sie denn?«, wollte Liebhart angriffslustig wissen.
»Das geht Sie nix an.«
»Na ja, Sie können’s auch dem Finanzamt erzählen, das wird Ihnen nämlich die Bude auseinandernehmen, wenn Sie nicht für jeden Gast eine Meldung vorweisen können.« Er zuckte die Schultern.
Lärm auf den Stufen kündigte die Männer der Spurensicherung an, die mit ihren Arbeitsgeräten zum Zimmer hinaufstiegen.
Als Frau Schrattner die Truppe sah, wurde sie bleich vor Wut.
Bevor sie zu keifen beginnen konnte, schob Liebhart sie weiter von der Tür weg. »Jetzt
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