Wiener Schweigen
oder nicht.« Sie lächelte entschuldigend. »Aber durch das, was dargestellt worden ist, kann ich ungefähr das Alter der Ikone bestimmen; dazu müsste ich allerdings wieder etwas ausholen.« Sie ging um den Tisch herum, sodass sie Schurrauer und Liebhart gegenüberstand. »Als die klassische Zeit der Ikonenmalerei in Russland gilt allgemein das 15. Jahrhundert. Nach dem Sieg in der Schlacht auf dem Kulikowo Pole Ende des 14. Jahrhunderts ist es Moskau gelungen, eine führende Rolle in der Vereinigung Russlands, das bis dahin in viele kleine Fürstentümer geteilt war, einzunehmen.
Diese Epoche spiegelt sich in der Ikonenmalerei verstärkt durch das Thema freundschaftliche Verbundenheit, brüderliche Liebe und Barmherzigkeit wider. Bilder, die im 15. Jahrhundert in Moskau entstanden sind, strahlen eine tiefe innere Ruhe aus. Das Bildnis der Muttergottes, die ihren Sohn liebevoll umarmt«, sie beugte sich über den Tisch und tippte mit dem Finger auf die Fotografie, »zählt zu den beliebtesten Darstellungen dieser Zeit.«
»So wie sich das in Fürstentümer zerrissene Russland nach Einigkeit gesehnt hat«, schlussfolgerte Liebhart.
»Richtig.« Rosa strahlte ihn an. »Die Muttergottes wurde in Moskau als Beschützerin und Bewahrerin verehrt. Ich denke daher, dass diese Ikone aus dem 15. Jahrhundert stammt und in Russland hergestellt worden ist.«
»Lässt das schon irgendwelche Schlüsse auf den Wert der Ikone zu?« Liebhart ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt.
Die Jalousien begannen, im warmen Luftzug, der von der Straße hereinwehte, zu klappern.
Rosa empfand die hereinströmende Hitze als unangenehm, angespannt rieb sie sich den Nacken. »Von Radoslav Beljajew weiß ich, dass für einen Gläubigen eine Ikone nur wertvoll ist, wenn sie an einem Ort hängt, an dem sie verehrt wird. – Nur anhand der Fotografie kann ich leider nicht mehr über das Bild sagen.«
Sie konnte die Enttäuschung der Kommissare förmlich spüren. »Es besteht noch die Möglichkeit, dass die Ikone von Andrzej ursprünglich Teil einer Ikonostase – einer geschmückten Wand mit drei Türen, die in der orthodoxen Kirche zwischen dem inneren Kirchenschiff und dem Allerheiligsten steht – gewesen ist. Ich kann die Spur einer solchen Ikonostase leichter zurückverfolgen als die Spur einer einzelnen Ikone. Vielleicht hat irgendwo auf der Welt ein Sammler schon mehrere Tafeln in seinem Besitz und möchte das Stück nun mit allen Mitteln vervollständigen. Ist nur ein Versuch.«
Das Telefon läutete, Liebhart stand auf und nahm den Hörer ab.
Schurrauer lehnte sich zu Rosa. »Wir sollten die Suche nach dem Mörder auf orthodoxe Gläubige im Umfeld von Kobald und auf andere Sammler religiöser Kunstwerke ausweiten. Bis auf eine Nichte, die nicht bei ihm gewohnt hat, hatte Kobald keine Familie. Niemand weiß, wer bei ihm ein und aus gegangen ist.«
Rosa nickte. »Und was erzählt die Nichte über ihn?«
»Die können wir nicht erreichen. Sie ist nach Kanada geflogen. Streift durch den Wood-Buffalo-Nationalpark, null Mobiltelefonempfang. Eigentlich wohnt sie in Deutschland, keine Ahnung, ob die beiden überhaupt Kontakt hatten. Deswegen denke ich, dass wir mit den orthodoxen Gläubigen vielleicht einen neuen Ansatz haben, der uns weiterhelfen könnte.«
Rosa entspannte sich, wenigstens konnte sie einen kleinen Beitrag zum Fall leisten.
Liebhart legte auf. »Die ermittelnden Kollegen im Kahlenbergerdorf haben die Pension gefunden, in der Zieliński gewohnt hat.«
»Wieso erst jetzt, er ist doch schon gestern früh gefunden worden?«, fragte Rosa.
»Wir rennen im Kahlenbergerdorf gegen eine Mauer des Schweigens. Abgesehen davon hat mir der Kollege gesagt, dass die Pensionswirtin Zieliński nicht bei der Gemeinde gemeldet hat, wahrscheinlich um seine Miete schwarz einzustreichen. Die hat sich so lange, wie es nur gegangen ist, gehütet, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass er bei ihr gewohnt hat.«
Rosa wollte die Pension sehen, in der Andrzej Zieliński gewohnt hatte. Schurrauer würde in Wien bleiben und sich auf die Suche nach orthodoxen Gläubigen in Friedrich Kobalds Umfeld machen.
Rosa und Liebhart mussten mit zwei Autos fahren, da Rosa nach dem Besuch der Pension nach Hause wollte.
Im Wagen merkte sie, wie hungrig sie war, und nahm sich fest vor, heute einkaufen zu gehen. Bei der Vorstellung, sich in den nächsten Tagen ausschließlich aus ihrem Weinkeller versorgen zu müssen, musste sie laut
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