Wiener Schweigen
Wasserstrahl auf. Es schien, als ob der Sommer nach dem langen Regen jetzt mit aller Kraft das nachholen wollte, was er in den letzten Wochen versäumt hatte. Rosa erschrak, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Am Gartenzaun standen Ludwig und Yvonne.
Ludwig Seebold war ein dreißigjähriger Mann, der bis vor Kurzem unter der Fuchtel seiner besitzergreifenden und tyrannischen Mutter gestanden hatte. Er half Johanna im Flüchtlingsheim aus und hatte dank ihr seit einem Jahr eine feste Anstellung im örtlichen Videoverleih und auch eine eigene Wohnung.
Im Sommer erfand er für Touristen, die Brunn besuchten, eine Attraktion nach der anderen. Johanna bekam jedes Mal einen Wutanfall, sobald er ihr von einer neuen Idee erzählte, da die für sie immer Probleme mit sich brachte. Vor zwei Wochen hatte sie Ludwig von der Polizeistation in Brunn abholen müssen. Eine wütende deutsche Pensionistin hatte seine Ausstellung erotischen Wurzelgemüses im Gemeindesaal von Brunn dermaßen anstößig gefunden, dass sie Ludwig ansatzlos zwei Watschen gegeben hatte. Es war zu einem Handgemenge gekommen, in dem Ludwig den Handtaschenträger der Frau zerrissen hatte. Die deutsche Touristin hatte in weiterer Folge geohrfeigt: den hinzueilenden Amtsdiener Schucherl und einen der beiden Polizisten, die daraufhin gerufen worden waren. Auf dem Dorfplatz hatten, als die Dame abgeführt worden war, der erfolglose Dorfpoet Hirnschaden und sein ebenso erfolgloser Lektor im Vorbeigehen ebenfalls noch je eine Watsche erhalten.
Zu Johannas grenzenlosem Erstaunen wurden Ludwigs Projekte immer ein voller Erfolg. Die Ausstellung war so gut besucht, dass sogar bei fast vierzig Grad die Besucher Schlange standen, um sie zu sehen.
Yvonne war ein hochgewachsener Transvestit, der in einem Bordell in Wien arbeitete. Rosa kannte sie seit dem letzten Fall, in dem sie gemeinsam mit Liebhart ermittelt hatte. Yvonne hatte für kurze Zeit ebenfalls in Gefahr geschwebt und Unterschlupf bei Rosa gesucht. Seitdem war sie aus ihrem Freundeskreis nicht mehr wegzudenken. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Ludwig. Rosa und Johanna hatten schon Überlegungen angestellt, ob da nicht mehr war als Freundschaft. Über Ludwigs sexuelle Orientierung hatten sie sich kaum Gedanken gemacht, sie hatten immer vermutet, dass es keine gab.
Rosa drehte das Wasser ab und ging auf die beiden zu.
Ludwig legte den Kopf schief. »Wir müssen gleich weiter, wollten dich aber schnell an das Sommerfest am Samstag erinnern. Im Flüchtlingsheim, du weißt doch?«
»Ich bin dabei und bringe auch etwas mit.« Sie umarmte Yvonne, die in einem fast durchsichtigen türkisen Sommerkleid wunderschön aussah.
Zsua, Ludwigs karamellfarbene Labradorhündin, sprang hechelnd am Gartenzaun hoch, um Rosa zu begrüßen. Ihr Fell glänzte seiden in der untergehenden Sonne. Rosa streichelte ihr über den Kopf.
»Sag einmal, Ludwig, du hast doch als Kind viel Zeit bei deiner Tante in Klosterneuburg verbracht. Bist du über die aktuellen Ereignisse rund um das Kahlenbergerdorf informiert?«, fragte sie, während die Hündin ihr mit samtweicher Zunge die Hand ableckte.
»Du meinst die Mure? Oder das Haus, das dort vor ein paar Wochen abgebrannt ist? Ja, ja, war eine traurige Geschichte. Nur noch die alte Frau Zehetmair hat dort gewohnt. Ihre Zwillingsschwester ist vor acht Jahren gestorben. Die hab ich ganz gut gekannt, weil ich ihr beim Verkauf ihrer Teppiche geholfen habe.«
Er wandte sich an Yvonne. »Sie konnte nämlich wunderschön knüpfen. Doch dann wurde sie immer eigenartiger, ist langsam verkalkt, nehme ich an. Und eines Tages hat sie keine Teppiche mehr geknüpft, sondern machte nur lauter Knoten in die Wolle. Alle möglichen Knoten. Und dann hat sie sich einen Knoten in ein Seil geknüpft, denn das konnte sie ja perfekt, und sich mit dem Seil in der Scheune aufgehängt.«
»Ludwig«, rief Rosa und schlug sich die Hände vor den Mund, »wenn das schon wieder so eine Geschichte von dir ist …«
»Das ist die Wahrheit, ja, ja. Baumelte da an ihrem letzten perfekten Knoten in der Scheune. Ihre Schwester hat sie gefunden. Das war eine Sache.«
Rosa und Yvonne starrten ihn erschrocken an.
»Sie ist da wirklich an einem wunderschönen Knoten gehangen«, fügte er noch einmal hinzu. »Übrigens habe ich gesehen, wie das Haus gebrannt hat.«
»Wie, gesehen? Du warst in der Nacht dort?«, rief Rosa aus.
»Ich bin seit meiner Kindheit Mitglied der ›Naturfreunde Wien‹, der Paddelgruppe
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