Wiener Schweigen
Menschen, die aus dem Ausland kamen, als Bedrohung. Da die Gespräche der Kundinnen nun ins Belanglose abrutschten, spähte sie in den rückwärtigen Teil des Geschäftes. Hinter einem aus roten, gelben und blauen Plastikschnüren bestehenden Vorhang im Türrahmen erkannte sie eine Art Lager, durch das eine weitere Tür in den Garten hinter dem Haus führte. Seit sie sich erinnern konnte, standen dort in großen Töpfen Engelstrompeten. Da die Pflanzen erst im Spätsommer blühten, wippten jetzt nur die länglichen, herzförmigen Blätter an den Stauden. Rosa versuchte, sich die Farben der Blütenkelche in Erinnerung zu rufen, und war ganz in Gedanken, sodass sie nicht merkte, dass sie inzwischen an der Reihe war.
Sie bestellte etwas Sauerkraut, drei Gläser eingelegte Paprika und zwei Gläser Senfgurken für ihre Freundin Johanna und beobachtete die Inhaberin, wie sie sich tief in ein großes Fass beugte, um die letzten Reste ihrer Ware in einen Plastiksack zu schöpfen. Der alte, schon ganz dunkle Krautstampfer schlug geräuschvoll an die Wand des Holzfasses. An den dick geschwollenen Beinen der Frau traten dunkle Krampfadern hervor. Rosa konnte sich nicht erinnern, sie jemals in anderer Kleidung als dem grauen Arbeitsmantel und den knöchelhohen Gesundheitsschuhen gesehen zu haben. Sie bezahlte und verließ den Laden.
Im Freien holte sie erst einmal tief Luft. Auf der anderen Straßenseite drehte sie sich noch einmal um und las den Namen, der in großen geschwungenen Buchstaben an der Fassade des Geschäftes geschrieben stand: »Tobler«. Ihrem Gedächtnis entglitt der Name immer wieder, bei ihr hieß die Inhaberin einfach »die Krautfrau«. Rosa wusste, dass Frau Tobler das Haus mit dem Geschäft von ihrer Mutter übernommen hatte, die mit einem Fuhrenbacher verheiratet gewesen war. Ein altes Holzschild, auf dem der Name »Fuhrenbacher-Kraut« zu lesen war, hing über dem Verkaufstresen. In die Schleifen des »F« waren kleine Enziane gemalt. Durchs Fenster konnte Rosa Frau Tobler sehen, wie sie ihr hinter ihrer Verkaufstheke stehend nachsah.
Starrt mich eigentlich jeder in diesem verdammten Ort an?, dachte sie entnervt, als sie die Einkäufe in ihrem Auto verstaute.
Sie fuhr die Heiligenstädter Straße ein Stück Richtung Wien und parkte ihr Auto am Nußdorfer Platz. Dort steuerte sie auf den Feinkostladen »Patzak« zu, ein winziges, exquisites Delikatessengeschäft auf der anderen Seite des Platzes. Vor dem Geschäft lagen, durch einen dunkelroten Sonnenschirm geschützt, in einer Holzkiste einzeln in buntes Seidenpapier eingewickelte goldgelbe Honigfeigen. Sie konnte nicht widerstehen und erstand zehn Stück.
Eine sehr passionierte Verkäuferin stand hinter der altmodischen Verkaufstheke. Rosa bildete sich ein, dass sie jede einzelne Honigfeige kurz streichelte, bevor sie sie in einen kleinen Karton legte. Außerdem kaufte Rosa noch Schinken und etwas Tapenade von schwarzen Oliven. Als sie bezahlen wollte, fiel ihr das Sommerfest am Wochenende im Flüchtlingsheim ein, das von ihrer Freundin Johanna Walser betreut wurde. Sie hatte versprochen, etwas mitzubringen.
Nachdem Rosa kein Fleisch in der Kühltheke liegen sah, fragte sie die Verkäuferin, die, nachdem sie den Kopf nachdenklich hin und her gewiegt hatte, ein leises »Moment, bitte« murmelte und im hinteren Teil des Geschäfts verschwand.
»Sie haben Glück«, rief sie kurz darauf. »Wir verkaufen Fleisch eigentlich nur auf Bestellung, aber die Chefin hat sich bei der gestrigen Lieferung kurzerhand entschlossen, etwas mehr zu nehmen. Was brauchen Sie denn?«
Rosa hatte sich dazu entschieden, für das Fest Vitello tonnato zuzubereiten. Dafür ließ sie sich ein Kilo Kalbstafelspitz einpacken, und um ihre Vorräte in der Tiefkühltruhe aufzufüllen, erstand sie einen Rindslungenbraten, zwei T-Bone-Steaks und ein Huhn, das für sie allein eigentlich viel zu groß war, doch die Verkäuferin hatte kein anderes mehr.
Die Summe, die Rosa schließlich bezahlte, war so horrend, dass ihr kurz schwindlig wurde. Noch benommen von den Ausgaben, wankte sie aus dem Geschäft Richtung Auto.
Zu Hause angelangt, verstaute Rosa ihre Einkäufe und goss noch schnell den Garten, bevor sie sich etwas zu essen machte. Wenig später stand sie bloßfüßig mit dem Gartenschlauch in der Hand bei ihrem Bougainvilleastrauch, dessen zarte Blüten unter den schweren Wassertropfen ihre Köpfe hängen ließen. Der Garten atmete nach dem heißen Tag unter dem feinen
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