Wiener Schweigen
dunstiges Morgengrau, als das Telefon läutete.
»Ich habe die Obduktionsunterlagen von Zieliński«, begann Schurrauer. »Rate, was er im Magen hatte.«
»Bigos?«
»Gesundheit«, wünschte Schurrauer, und Rosa grinste.
»Bigos ist ein polnisches Nationalgericht, das hauptsächlich aus Kraut besteht«, erklärte sie ihm.
»Oh, na, wie auch immer. – Nein, Papier!«
»Wie, Papier?«
»Papierstücke. In der Gerichtsmedizin haben sie Seiten aus seinem Tagebuch in seinem Magen gefunden.«
»Ich komme.«
Als sie aus dem Haus trat, stolperte sie beinahe über ein Paket mit Zeitungen, das Johanna ihr gestern Abend noch vor die Tür gelegt haben musste. Sie trug es ins Haus, suchte schnell die für sie interessanten Artikel, schnitt sie aus und stopfte sie in ihre Tasche.
Als sie erneut ins Freie trat, hatte sich der Morgendunst schon aus den Tälern verflüchtigt, die Steine der Auffahrt waren aber noch feucht vom Tau. Rosa atmete die frische, würzige Luft tief ein.
Auf dem Weg von ihrem zu Johannas Haus lag eine scharfe Kurve. Der Regen hatte auch hier seine Spuren hinterlassen und den Straßenuntergrund ausgeschwemmt, sodass ein Stück der Fahrbahn abgebrochen war. Rosa bemerkte im Vorbeifahren, dass sich weitere Risse im Asphalt Richtung Straßenmitte gezogen hatten. Sie fuhr langsam und vorsichtig, da sie Angst hatte, in ihrem Auto mit der brechenden Fahrbahn den Hang hinunter und in den Straßengraben zu rutschen.
Vor Johannas Haus hielt sie an und stellte ihr die zwei Gläser Senfgurken, die sie gestern gekauft hatte, vor die Tür. Dann machte sie sich auf den Weg nach Wien.
Der Verkehr auf der Autobahn war um diese Uhrzeit noch erträglich, aber auf der Roßauer Lände zog sich ein Stau bis in die Innere Stadt, da nahe dem Schwedenplatz eine Baustelle war. Rosa sah auf den Donaukanal und betrachtete die Büsche in der milchigen Luft, die, erschöpft von der Hitze, ihre Äste in die grüngrauen Fluten hängen ließen.
Rosa spürte, wie sich unglaubliche Müdigkeit in ihr breitmachte. Sie hatte nicht gut geschlafen, und die Hitze in der Stadt setzte ihr zu. Es ärgerte sie, dass sie bis jetzt bei dem Fall in kunstwissenschaftlicher Hinsicht gleich null herausgefunden hatte.
Die Tür zu Liebharts Büro stand offen; Rosa konnte sehen, dass auch Schurrauer schon da war. Im Vorraum saß Frau Grand wie ein nicht zu bezwingender Fels.
»Guten Tag, Frau Grand«, begann Rosa und blieb vor dem Schreibtisch der Sekretärin stehen. »Wie es aussieht, werden wir wieder das besondere Missvergnügen haben, einander in nächster Zeit öfter zu sehen. Zu diesem Einstand möchte ich Sie wissen lassen, dass ich Ihnen noch immer die Pest an den Hals wünsche.«
»Und Sie möge bei baldiger Gelegenheit der Schlag treffen«, entgegnete Frau Grand. »Wollen Sie Milch zu Ihrem Kaffee?«
»Ja, bitte, und vielen Dank«, erwiderte Rosa, bevor sie in Liebharts Büro trat und die Tür hinter sich schloss.
»Ich habe mich immer noch nicht an euren Umgangston gewöhnt«, sagte Liebhart, als sie eintrat.
»Wir verstehen uns ausgezeichnet«, antwortete Rosa und stellte ihre Leinentasche auf einen freien Sessel.
Auf dem Tisch lagen großformatige Fotos der Papierreste, die man in Andrzej Zielińskis Magen gefunden hatte. Die Magensäure hatte bereits begonnen, das Geschriebene zu zerstören. Dem Labor war es aber gelungen, einen Großteil zu rekonstruieren.
»Wir haben die fehlenden Seiten bestimmten Stellen im Tagebuch zuordnen können. Es sind die letzten drei Blätter. Er hat sie nicht zerrissen, sondern als Ganzes geschluckt«, begann Schurrauer.
»Und sie zeigen ausnahmslos Zeichnungen der Ikone«, fügte Liebhart hinzu.
Rosa beugte sich über die Fotos. »Er hat die Blätter sicher nicht freiwillig herausgerissen und geschluckt. Wenn ich vorhabe, ein Blatt zu schlucken, mache ich es mir so einfach wie möglich: Ich zerreiße es in kleine Fetzen. Es ist nicht besonders angenehm, so große Papierstücke zu schlucken.«
»Mit Sicherheit nicht«, stimmte Schurrauer ihr zu. »Er hat es laut Obduktionsbericht auch nicht oft gekaut. Was ein zusätzliches Indiz dafür ist, dass er gezwungen wurde. Abgesehen davon hat ihm ein Zahn gefehlt, den der Pathologe ebenfalls in seinem Magen gefunden hat, und er hatte Verletzungen in Mund- und Rachenraum, die wahrscheinlich entstanden sind, als man ihm die Seiten mit Gewalt in den Mund gestopft hat.«
Rosa wurde kalt bei dem Gedanken daran, welche Grausamkeit Andrzej widerfahren war,
Weitere Kostenlose Bücher