Wiener Schweigen
Gedanken, Liebhart in ihre aktuellen Untersuchungen zu Pauls Tod einzuweihen. Vielleicht konnte er Informationen beschaffen, an die sie nicht herankommen würde. Sie verwarf die Idee jedoch wieder, da sie ihm nicht noch mehr Arbeit aufbrummen und, abgesehen davon, sich nicht wieder eine Moralpredigt anhören wollte.
An diesen Augenblick dachte Rosa später oft zurück. Die Ereignisse hätten eine vollkommen andere Wendung genommen, hätte sie Liebhart von ihren Recherchen erzählt.
Am Julius-Tandler-Platz fand sie schließlich ein Geschäft, das mit verstaubten grellen Werbetafeln für billiges Telefonieren ins Ausland und Benützung des Internets warb. Sie konnte es kaum glauben, als im selben Moment ein Auto direkt vor dem Geschäftslokal aus einer Parklücke fuhr.
Rosa stellte ihren Wagen ab und betrat den verrauchten Innenraum, an dessen Stirnseite neben einer schmierigen Verkaufstheke drei Telefonzellen angebracht waren. Zwei von ihnen waren von Schwarzafrikanern besetzt. Gegenüber befanden sich an einem langen Tisch fünf Computer, an denen man für einen Euro fünfzig die Stunde im Netz surfen konnte. Der Verkäufer wies ihr einen Platz zu, und Rosa loggte sich ein.
Nach einiger Zeit hatte sie rausgefunden, dass die Bakk Pharm AG vor fünf Jahren mit dem US -Pharmakonzern Winter Upcom fusioniert hatte. Die Transaktion hatte, nach damaligen Aktienkursen, einen Gewinn von rund siebenundzwanzig Milliarden Dollar gebracht. Winter Upcom war der globale Marktführer bei genetisch verändertem Saat- und Düngegut.
Das Gensaat- und Agrarchemiegeschäft hatte wegen des starken Widerstandes in Europa gegen gentechnisch verändertes Saatgut gelitten und den Winter-Upcom-Aktienkurs belastet. Bakk Pharm AG war bis zu der Fusion auf die Forschung und Herstellung von Hormonen, Estrogen- und Gestagen-Präparaten sowie Gerinnungsfaktoren spezialisiert gewesen. Winter Upcom hoffte, sich durch die Fusion ein Standbein in Europa zu schaffen und so den Geschäftsradius zu erweitern.
Inwieweit diese Hoffnung aufgegangen war, darüber konnte Rosa nichts finden, was sie aber auch nicht weiter wunderte, nachdem sie das Web nach Seiten von anderen Pharmafirmen durchforstet und festgestellt hatte, wie inhaltsleer und glatt poliert diese waren. Mit viel schickem Design wurde dort so wenig wie möglich preisgegeben. Die paar Pressetexte, die sie zur Fusion vor ein paar Jahren gefunden hatte, beschränkten sich darauf, Aktienwerte zu veröffentlichen. Rosa hatte den Medien entnommen, dass der Trend der letzten Jahre in Richtung weiterer Fusionen ging; mit dem Ziel, strategische Allianzen zu bilden, die Kosten zu senken und die Marktposition auszubauen. Ob das den Patienten nützen würde, stand allerdings auf einem anderen Blatt. Mit jedem Zusammenschluss von Großkonzernen wurde der Wettbewerb spürbar kleiner, bis das Monopol auf lebenswichtige Präparate nur mehr bei einem Konzern lag, der den Preis und die Qualität des Produktes bestimmte.
Auf dem Weg zu ihrem Termin in der Bakk Pharm AG stand Rosa wieder einmal im Stau und klopfte ungeduldig auf das glühend heiße Lenkrad. Als sie über die Donauinsel fuhr, wurde die Luft merklich kühler. Sie musste erneut an das Gänsehäufel, in dem sie als Kind oft mit ihren Eltern und ihrer Schwester gewesen war, denken und lächelte, als sie sich an die Mutprobe erinnerte, die darin bestanden hatte, verbotenerweise von der Brücke ins Wasser zu springen.
Ein Lieferwagen auf der Erzherzog-Karl-Straße konnte sich nicht entscheiden, ob er rechts oder links fahren wollte.
Rosa hupte gereizt, schlagartig war sie wieder in der Gegenwart. Alle drehen durch bei der Hitze, ich eingeschlossen, dachte sie.
Die Bakk Pharm AG lag in Aspern, im Nordosten von Wien, einem Industriegebiet an der Groß-Enzersdorfer Straße, wo sich die Glasburgen der großen Firmensitze aneinanderreihten. Um sie herum glänzten in der glühenden Sonne auf riesigen Parkplätzen die Autodächer der Angestellten wie ein Heer von bunten Riesenkäfern mit schillernden Panzern.
Als Rosa aus ihrem Auto stieg und die Sonne sie mit voller Wucht traf, brach ihr sofort der Schweiß aus. Sie überquerte den Parkplatz und betrat durch eine hohe Glastür das Firmengebäude. Im Eintreten tauchte sie in eine von der Aircondition erzeugte kühle Welt. Die Lobby war vollständig mit Marmor ausgekleidet. In scheinbar weiter Ferne sah Rosa auf einem Podest die Rezeption. Das Klappern ihrer Absätze
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