Wiener Schweigen
Pinzetten, deren Enden mit einer dünnen Gummischicht überzogen waren, behutsam vom Kreuz ab und legte das Stück Papier vorsichtig mit zwei Pinzetten auf eine vorbereitete Glasplatte. Rosa beugte sich mit den anderen darüber, dreieinhalb Zeilen in Kurrentschrift waren mit Bleistift darauf geschrieben.
»›Mndiatr noatvr‹ …« , las Liebhart. »Was zum Henker ist das denn für ein Mist?«, rief er dann und richtete sich verärgert auf.
Rosa neigte sich noch tiefer über das Papier. »›… mediatrix nostra, advocata nostra, tuo filio nos reconcilia …‹« , sie hielt inne und kniff die Augen zusammen, »›… tuo filio nos commenda, tuo filio nos repraesenta. Amen.‹«
Im Raum hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Nach ein paar Sekunden übersetzte sie: »… unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Versöhne uns mit deinem Sohne, empfiehl uns deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne. Amen.«
»Das ist das ›Sub tuum praesidium‹, eines der ältesten Mariengebete«, brummte Schurrauer.
»Wieso wisst ihr das?«, fragte Liebhart erstaunt, während er dem Goldschmied zerstreut die Hand gab und sich von ihm verabschiedete.
Rosa lächelte. »Wir wohnen beide auf dem Land. Selbst lang nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965, in dem Papst Paul VI auch andere Sprachen für die heilige Messe zugelassen hatte, wurden in Österreich in manchen Kirchen die Messen noch immer in Latein gelesen. Viele alte Leute weigern sich bis heute, eine Messe in Deutsch anzuhören. Manche Priester tragen deswegen Gebete und Marienlieder noch auf Lateinisch vor. Das ›Sub tuum praesidium‹ ist eines der bekanntesten.«
»Da steht noch was.« Schurrauer beugte sich wieder eifrig über das Papier, murmelte dann allerdings entschuldigend: »Ich kann nicht mehr so gut Kurrentschrift lesen …«
»Das heißt«, Rosa las langsam vor, »›Unsre Seelen sind verloren, zu Michaeli hat mit uns im Kahlenbergerdorf der Teufel getanzt. Anno Domini 1919‹, das ist der Schluss.«
Schurrauer nickte anerkennend.
»Kurrentschrift«, meinte Liebhart. »Eine Nachricht in Kurrentschrift, die, soviel ich weiß, in Österreich in den Vierzigern abgeschafft worden ist.« Liebhart wippte auf den Fersen auf und ab, während er sich übers Kinn strich. »An welchem Tag ist denn Michaeli? Das ist doch in Österreich kein gesetzlicher Feiertag, oder?«
»Nein, es ist ein kirchlicher Feiertag, und zwar der 29. September«, sagte Schurrauer langsam.
»Ich finde es interessant, dass da steht: ›Zu Michaeli hat mit uns im Kahlenbergerdorf der Teufel getanzt.‹ Das bedeutet, dass die Dorfbewohner auch mit ihm getanzt haben«, warf Rosa ein.
»Finde ich auch. Sonst würde da nur ›Zu Michaeli hat im Kahlenbergerdorf der Teufel getanzt‹ stehen«, fügte Schurrauer hinzu.
»Wer kennt sich denn mit der Vergangenheit des Kahlenbergerdorfes aus?« Liebhart sah zu Rosa und deutete mit dem Finger auf das Blatt Papier. »Vielleicht findest du irgendetwas in der Dorfgeschichte? Schurrauer und ich müssen uns um die Autodiebe kümmern.«
Sie nickte und versprach: »Ich werde mich erkundigen.«
Liebhart griff zu einer prall gefüllten Mappe. »Hier habe ich endlich eine Kopie der Übersetzung des Tagebuches von Zieliński. Ich weiß, ich häufe dich mit Aufträgen zu, aber kannst du sie dir bitte so rasch wie möglich durchlesen?« Er hielt ihr einen Stapel Papiere hin.
Als Rosa zu ihrem Wagen ging, läutete ihr Mobiltelefon.
»Daniel Mühlböck, Bakk Pharm AG , guten Tag. Wir haben heute Morgen miteinander telefoniert. Sie erinnern sich?«
Rosa blieb wie angewurzelt stehen.
»Wir haben da ein paar Notizen von Ihrem verstorbenen Freund gefunden und möchten Ihnen gern Einblick in diese Unterlagen geben. Wann hätten Sie denn Zeit?«
Sie verabredeten sich für den Nachmittag in seinem Büro. Rosa legte auf und starrte ein paar Minuten ungläubig auf ihr Telefon; sie hatte nicht damit gerechnet, je wieder etwas von der Pharmafirma zu hören. Rosa verstand zwar nicht, wieso Herr Mühlböck so kooperativ war, beschloss aber, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie nahm sich vor, vor ihrem Termin ein wenig über die Bakk Pharm AG zu recherchieren. An ihr Auto gelehnt, überlegte sie, ob es in der Nähe ein Internetcafé gab. Als ihr keines einfiel, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr einfach los, an der Wirtschaftsuniversität vorbei, Richtung Franz-Josefs-Bahnhof.
Auf ihrer Suche spielte sie mit dem
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