Wiener Schweigen
antwortete Rosa schlaftrunken.
»Wir haben an siebzehn Skeletten aus dem Kuchelauer Hafen Bissspuren gefunden.«
»Ist das nicht normal? Vielleicht haben Tiere die Knochen ausgegraben und daran herumgenagt. Mit der Mure ist dann alles ins Hafenbecken gerutscht.«
»Nein, Rosa. Es sind keine Bissspuren von Tieren, sondern von Menschen.«
12
Prof. Dr. Wankel unterrichtete am Institut für Anthropologie an der Universität Wien und nahm gleichzeitig an einem Forschungsprojekt im Naturhistorischen Museum teil. Liebhart hatte Rosa dorthin bestellt, da Professor Wankel sich wegen des Projektes in seiner vorlesungsfreien Zeit ausschließlich im Museum aufzuhalten pflegte.
Als sie die Treppe hinaufstieg, blieb sie kurz stehen, drehte sich um und sah hinüber zum Kunsthistorischen Museum. Sie ließ ihren Blick über die helle Balustrade gleiten, die von der großen Eingangstür auf den Maria-Theresien-Platz mit der Statue der Kaiserin führte. Dort, auf dem Geländer, hatte Ende November letzten Jahres der abgetrennte Frauenkopf gelegen, mit dem die Zusammenarbeit mit Liebhart begonnen hatte. Viel war seitdem passiert, sie wäre fast totgeprügelt worden und hatte Beweise gefunden, die berechtigte Zweifel am Unfalltod von Paul hatten aufkommen lassen. Rosa drehte sich um und stieg schnell die restlichen Stufen zur Eingangstür hinauf.
Die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums beherbergt vierzigtausend Gebeine, die in raumhohen Glasvitrinen bis zur Decke ausgestellt sind. Rosa traf Liebhart und Schurrauer in einem fensterlosen Extraraum. Auf einem großen Tisch unter einer starken Neonlampe lagen ein paar dunkle Knochen. Von der Decke hing eine Kamera, die an einem Schwenkarm befestigt war. An einer Wand stand ein großer Flatscreen.
Professor Wankel war ein schlaksiger Mann um die fünfzig. Wenn er lächelte, entblößte er ein riesiges Gebiss und erinnerte Rosa an ein Pferd. Seine weißen Haare standen ihm ungebändigt vom Kopf, und auf seiner großen Nase saß eine Brille aus einem zarten Silbergestell. Er umschloss zur Begrüßung Rosas Hand vollständig mit seiner, die ungefähr die Größe einer Schaufel hatte.
Als alle versammelt waren, begann er mit seinen Erläuterungen. »Wie Sie vielleicht bereits wissen, sind die Bergungsarbeiten im Kuchelauer Hafen abgeschlossen. Insgesamt haben wir fünfunddreißig Skelette gefunden, leider nicht alle vollständig. Der Zustand der Knochen hat uns Aufschluss über die Art und Weise gegeben, auf die die Toten einst bestattet wurden.«
Rosa merkte, wie Liebhart sich anspannte. »Und wie sind sie begraben worden?«, fragte er und massierte sich den Kiefer.
»Wenn eine Leiche in einem Sarg bestattet und vielleicht auch noch einbalsamiert worden ist, verwest sie anders als in bloßer Erde. Bei den Toten vom Leopoldsberg war Letzteres der Fall.«
»Fünfunddreißig Personen einfach verscharrt«, bemerkte Liebhart.
»Konnten Sie herausfinden, ob man sie einzeln oder paarweise begraben hat?« Rosa führte die Gänsehaut, die ihr über den Rücken lief, nicht auf die Klimaanlage zurück.
Professor Wankel nickte. »Ja, denn Gott sei Dank sind die Skelette in den Kuchelauer Hafen – also in ein stehendes Gewässer – gerutscht und haben nicht lange im Wasser gelegen. Das heißt, die Erde ist nicht vollständig aus den Knochen ausgeschwemmt worden. Wir haben Bodenproben, die wir in den Schädeln sichern konnten, an die Universität für Bodenkultur geschickt. Dort hat man sie mit Proben aus dem Hang verglichen und herausgefunden, dass die Körper in einem sehr kleinen Bereich im Hang gelegen sind.«
»Wie klein?« Liebharts Fragen wurden immer kürzer.
Professor Wankel sah ihn über den Rand seiner Brille an. »Die Personen sind in einem zwanzig bis fünfundzwanzig Kubikmeter großen Areal begraben worden.«
»Wie wir vermutet haben: ein Massengrab«, brummte Liebhart.
Einen Augenblick lang hörte man nur das Surren der Klimaanlage.
Professor Wankel schob sich die Brille höher auf die Nase und wies auf die Knochen, die auf dem Tisch vor ihnen lagen. »Wir sehen hier das Skelett der Leiche mit der Fallnummer drei. Es handelt sich um die Überreste eines weißen männlichen Mitteleuropäers. Er wurde zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Die Verwesung tief liegender Leichen im Erdreich dauert achtmal länger als die eines an der Luft liegenden Toten. Diese Leichen wurden schon vor sehr langer Zeit begraben, ich konnte kein Leichenwachs mehr an den
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