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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Strohschein
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Knochen finden.«
    »Wie lange?«, hakte Liebhart nach.
    »Circa neunzig Jahre«, antwortete der Anthropologe. »Bei dem Skelett dieses Mannes habe ich Abnützungserscheinungen an der Hüfte feststellen können. Das bedeutet, dass er schon von früher Jugend an schwer arbeiten musste. Und hier sehen Sie nun den Grund meines Anrufes.«
    Professor Wankel zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Hemdes und wies damit auf den Brustkorb des Toten. »An der zwölften Rippe haben wir Bissspuren gefunden.«
    Liebhart, Rosa und Schurrauer beugten sich über die Knochen. Rosa kam es vor, als würden sie mit der Bewegung ihren Respekt vor dem Toten bekunden.
    Der Anthropologe beobachtete sie kurz. »Ich werde unsere Kamera einschalten. Bitte werfen Sie einen Blick auf den Bildschirm.« Er deutete auf den großen Flatscreen und zog die Kamera über den Knochen.
    Ein wenig später flackerte eine starke Vergrößerung der untersten Rippe in Farbe auf dem Bildschirm auf. Deutlich hoben sich helle Nagespuren vom dunklen Knochen ab.
    »Das sind Abdrücke eines menschlichen Gebisses. Hier sind die Zähne in den Knochen eingeschlagen, und dann haben sie das Fleisch abgezogen. Wir konnten die Bissspuren von der Rippe dieses jungen Mannes dem Gebiss des Skeletts mit der Fallnummer zwanzig zuordnen.« Professor Wankel trat etwas beiseite und ließ die drei das Bild auf dem Flatscreen betrachten.
    Liebhart holte scharf Luft. Schurrauer fuhr sich mit der Hand über die Stirn und dann über die Augen, er drehte sich kurz weg. Rosa hustete mit vorgehaltener Hand und unterdrückte damit ihren Brechreiz.
    »Hundert Prozent sicher, dass es sich um menschliche Bissspuren handelt?«, fragte Liebhart nach ein paar Sekunden Stille.
    Professor Wankel zeigte erneut auf den Bildschirm, während er sprach. »Hier sehen Sie den Abdruck von vier oberen Schneidezähnen, an der anderen Seite des Knochens haben wir den Abdruck der unteren gefunden. Und das hier sind die Zugspuren.«
    »Schimpansen haben doch auch acht Schneidezähne.«
    Rosa hoffte, dass Professor Wankel diesem Einwurf Schurrauers zustimmen würde.
    »Richtig, jedoch bilden sie nicht einen so durchgehenden Bogen wie menschliche.« Professor Wankel nahm die Brille ab und massierte sich den Nasenrücken. »Abgesehen davon glaube ich nicht, dass ein frei laufender Schimpanse Ihnen die Untersuchungen leichter machen würde.«
    »Sind die Bissspuren an den Skeletten immer an den gleichen Stellen?«, erkundigte sich Rosa.
    »Eine gute Frage.« Der Anthropologe nahm ein Klemmbrett zur Hand und begann vorzulesen. »Das Skelett mit der Fallnummer fünf weist Bissspuren vom Skelett mit der Fallnummer dreiunddreißig auf, und zwar auf der Innenseite des Oberarmknochens. Die Überreste vom Skelett Nummer siebzehn weisen Spuren der Zähne des Skelettes Nummer sieben an der Oberkante der rechten Beckenschaufel auf –«
    Liebhart räusperte sich. »Vielen Dank, Herr Professor, ich denke, wir haben verstanden. Gibt es irgendeine Geschlechterverteilung, das heißt, wurden nur die Männer von den Frauen angefressen oder umgekehrt?«
    »Nein, dergleichen konnte ich nicht erkennen.«
    »Ich stelle es mir sehr schwierig vor, bis auf den Knochen durch rohes Fleisch zu beißen, ohne es vorher zu zerteilen«, sagte Liebhart.
    »Wenn man einen Menschen mit einem Messer oder einer Säge zerteilt, dann rutscht man, auch wenn man noch so vorsichtig ist, irgendwann einmal auf den Knochen ab. Wir haben die Skelette sehr gründlich auf solche Spuren untersucht und konnten Kerben von scharfen Werkzeugen finden.« Er justierte die Kamera über dem Knochen neu. Auf dem Flatscreen ließen sich nun helle Kerben erkennen.
    »Konnten Sie feststellen, ob das Fleisch vor dem Verzehr erhitzt worden ist?«, fragte Schurrauer.
    »Oh mein Gott! Ich kann nicht glauben, dass du das gefragt hast!«, flüsterte Rosa und begann erneut zu husten.
    Professor Wankel antwortete, als ob man ihn gefragt hätte, wie er denn sein Wochenende verbracht habe. »Nein, es gibt keine Spuren von Hitzeeinwirkung an den Knochen. Ich kann das selbst auch nicht nachvollziehen, denn gesetzt den Fall, ich möchte einen Menschen verzehren«, Rosa verbarg ihren Mund in der Hand und hüstelte heftiger, »würde ich ihn aufgrund des zähen Fleisches irgendwie zubereiten. Zum Beispiel kochen.«
    »Wissen Sie schon, woran die Personen gestorben sind?«, unterbrach ihn Schurrauer.
    »Ich kann Ihnen nur sagen, was die Knochen mir verraten. Deren Zustand

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