Wiener Schweigen
Unterarmen.
Die Männer am Stammtisch saßen vor ihren fettigen kleinen Gläsern und einer nicht etikettierten dunkelgrünen Weinflasche. Bevor Rosa den Wirt in ein Gespräch verwickeln konnte, betrat ein großer blonder Mann den Heurigen. Sein Blick streifte Rosa, dann setzte er sich zu den anderen Männern, die wie zerrupfte kleine Vögel in die Bank hineinrückten, um ihm Platz zu machen.
Ein Rudelführer, dachte Rosa.
Er war der Jüngste, hier geboren, hier geblieben und bewirtschaftete mit Sicherheit einen Weinbaubetrieb in der Nähe. Seine Arbeitsstiefel waren mit Erde beschmiert.
»Das ist eine Sache mit dem Regen«, sagte ein Alter.
»Fast alle Reben sind hin«, warf der Junge ein und schob seine Mütze mit dem Daumen in den Nacken.
»Dann kommt was anderes nach, Robert«, meinte der Wirt in Richtung des Jungen.
»Wenn’s im nächsten Sommer wieder so viel regnet, nicht. Da ist es besser, man wohnt in Wien, da schert sich keiner um den Wein.«
Am Tisch trat Schweigen ein, und einige Gesichter wandten sich verstohlen Rosa zu.
»Wieso sollte ich aus Wien sein?«, fragte sie in ruhigem Ton.
»Mit den Schuhen kannst du nicht in einem Weingarten arbeiten.« Robert sah siegessicher in die Runde. Die Männer fingen an zu lachen.
»Und du kannst mit dem Schädel nicht erkennen, wo jemand herkommt«, schnappte Rosa zurück.
Das Lachen verebbte, und Robert biss die Zähne zusammen, sodass die Muskeln an den Wangen hervortraten. Der Wirt hinter der Schank begann zu prusten. Rosa sah in ihm den Vermittler, der in seinem Revier keine Unruhe duldete. Er war älter als Robert, aber nicht so alt wie die fünf Männer, die in sein Lachen einfielen.
Robert rieb sich den Nacken und lenkte ein, wobei er Rosa immer noch den Rücken zuwandte. »Du kommst nicht aus Wien.«
Rosa wusste, dass man hier keine direkten Fragen stellte. Das würde bedeuten, man sei neugierig, und Neugierde ist was für Weiber und nicht für Männer. Männer gehen ihren Weg und fragen nicht viel, denn sie wissen, wo es langgeht.
»Bin selbst vom Land. Und wo wohnst du?«
Robert nahm sich einen Zahnstocher aus einem kleinen Gefäß auf dem Tisch und antwortete beiläufig: »Wohn im Dorf.«
Rosa nickte und trank einen Schluck Wein. »Dann hast du ja die alte Zehetmair gekannt?«
»Hm« war alles, was sie zur Antwort bekam.
So ein bockiger Haufen, dachte Rosa. »Eigenartig, was da bei euch in der letzten Zeit alles passiert ist. Zuerst brennt das Haus der Zehetmair, dann geht eine Mure ab, man findet einen toten Polen im Hafen, und das Pfarramt brennt aus. Um die Aufräumarbeiten beneid ich euch nicht.«
Sie sah zur Decke und versuchte, so teilnahmslos wie möglich auszusehen. Schweigend zählte sie die Risse in der gekalkten Wand.
Am Stammtisch herrschte Unruhe. Die Alten rutschten auf ihren Bänken hin und her und ließen die Gläser in ihren knorrigen Händen kreisen.
»Der Pole war selbst schuld«, brummte Robert.
Rosa horchte auf, versuchte es zu verbergen und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Mit dem Fingernagel fuhr sie die Maserung des Holztisches nach.
»Was redst denn da«, rief der Wirt dazwischen, »der war öfter bei mir, und ich hab mit ihm geplaudert.« Er wandte sich an Rosa. »War halt einsam in der Pension Schrattner.«
»Der war selbst schuld, sag ich«, stieß Robert in jugendlicher Heftigkeit hervor und sah den Wirt an. »Dauernd mit seiner Fragerei. Wir wissen nicht, wo dem sein Zeug hingekommen ist. Ist ja auch schon fast hundert Jahre her.«
»Woher solln wir denn das wissen?«, echote ein Alter.
Rosa befürchtete, dass sie durch das nun folgende Schweigen vom Thema abkommen würden.
Sie streckte sich und meinte in die Gaststube hinein: »Na, das ist eine lange Zeit, da kann man ja wirklich nichts mehr wissen.«
»Ja, lange Zeit«, wiederholte ein anderer Alter und beobachtete Rosa, die den Wein in ihrem Glas schwenkte. »Mein Vater ist auch nicht mehr wiedergekommen.«
Rosa verstand überhaupt nicht, worauf sich der alte Mann bezog; sie entschied, einfach zu warten.
»Das war doch der Zweite Weltkrieg, du kriegst schon alles durcheinander«, fuhr Robert ihn an. »Der Pole war nur am Ersten interessiert.«
»Gestorben sind sie da und dort«, begehrte der Alte auf und wies mit seinem krummen Finger auf die Holzplatte des Tisches, als läge dort der Beweis für das eben Gesagte.
»Ach, halt’s Maul! Schnaps ma lieber eine Runde!« Robert stand auf und holte ein paar Karten von der
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