Wiener Schweigen
deutet darauf hin, dass die Menschen alle zur selben Zeit gestorben und begraben worden sind. Ich habe keine Schussspuren und keine Stich- oder Schnittspuren gefunden, die zum Tod geführt hätten. Bis jetzt konnte ich auch keine tödlichen Krankheiten im Knochenmaterial finden, die Analyse läuft allerdings noch.«
»Also sind sie nicht durch äußere Gewalteinwirkung umgekommen«, resümierte Schurrauer.
» DNA ?«, stieß Liebhart hervor.
»Wir versuchen, welche aus den Oberschenkelknochen zu bekommen. Aber ich kann Ihnen keine Wunder versprechen. Wenn dort keine organischen Komponenten mehr vorhanden sind, ist eine Bestimmung der DNA unmöglich.«
Nachdem sie von Professor Wankel die erschütternden Details zu den Skeletten gehört hatten, steuerten Liebhart, Rosa und Schurrauer, ohne ein Wort zu verlieren, das nächste Kaffeehaus an. So saßen sie wenig später im Kaffeerestaurant Bellaria und starrten ungläubig vor sich hin. Als die Kellnerin kam, bestellte jeder einen Schnaps, sogar Schurrauer, der sonst nie Alkohol trank.
»Was kann Menschen in einem Kulturkreis, in dem Kannibalismus als abstoßend gilt, dazu bringen, einander aufzufressen?«, fragte Liebhart nach einer Weile mit leerem Blick.
»Eine Notsituation«, antwortete Rosa und hustete wieder, der Brechreiz hatte sich nicht gelegt.
»Wie beim Flugzeugabsturz in den chilenischen Anden 1972. Ein paar Passagiere wurden nach zweiundsiebzig Tagen gerettet; sie hatten nur überlebt, weil sie andere Fluggäste gegessen hatten«, sagte Schurrauer.
»Es gibt ein Ölbild des französischen Malers Théodore Géricault, ›Das Floß der Medusa‹. Es ist 1819 entstanden und hängt heute im Louvre in Paris. Das Sujet des Bildes geht auf ein tatsächliches Ereignis zurück. 1816 war es auf einem Floß, auf dem sich Überlebende einer verunglückten französischen Flotte befanden, zu Kannibalismus gekommen. Die Matrosen hatten am dritten Tag ohne Nahrung und Wasser begonnen, ihre Verstorbenen aufzufressen«, meinte Rosa.
Sie schwiegen, das Thema schlug ihnen aufs Gemüt.
»Kannibalismus ist auch aus rituellen Gründen praktiziert worden. Wie in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Volk der Fore aus Papua-Neuguinea. Die wären übrigens fast ausgestorben, da sie durch den Verzehr der Gehirne ihrer toten Verwandten Kuru – das ist eine Prionenkrankheit, ähnlich dem Rinderwahn und dem Creutzfeldt-Jakob-Syndrom – bekommen hatten.« Schurrauer drehte sein Glas in der Hand.
»Das heißt, dass man als Mensch vom Menschenfleisch krank wird«, sagte Liebhart.
Schurrauer nickte. »Über die Speiseröhre gelangen die Prionen in den Darm, dort treten sie in die Nervenbahnen ein und wandern ins Gehirn. Ein zweiter Weg führt über das Rückenmark. Auf dem Weg dorthin werden Blinddarm, Milz, Mandeln und das Lymphsystem befallen. Bis die Erreger ins Gehirn gelangen, können Jahre vergehen. Zeigen sich allerdings die ersten Symptome, geht alles sehr schnell. Zerstörung des Gehirns, rascher geistiger Verfall, dann massive Bewegungsstörungen und schlussendlich der Tod.«
»So weit ist es bei den Menschen in unserem Fall nicht gekommen. Die sind alle gleichzeitig, kurz nachdem sie angenagt worden sind, gestorben«, fügte Liebhart hinzu und schüttelte sich. »Der Zettel, den wir im Brustkreuz gefunden haben, bezieht sich auf ein Ereignis im Kahlenbergerdorf zu Michaeli am 29. September 1919. Ist euch irgendein Ereignis aus dem Dorf vor circa neunzig Jahren bekannt? Erzählt man sich Schauergeschichten hinter vorgehaltener Hand? Gerüchte oder Ähnliches? Ich bin mir sicher, dass das, was zu Michaeli 1919 passiert ist, mit den angenagten Skeletten zusammenhängt. Von der Zeit her würde es passen.«
Rosa überlegte kurz, ob sie Liebhart von ihrem gestrigen Ausflug erzählen sollte, verwarf den Gedanken wieder und antwortete: »Im Bezirksmuseum konnte ich nur herausfinden, dass das Dorf um 1900 arm gewesen war. Die Weinreben waren durch einen Schädlingsbefall vernichtet worden, und der Hang von Leopolds- und Kahlenberg war stark abrutschgefährdet.«
»Wem gehört denn das Land an den Hängen der Wiener Hausberge?«, fragte Liebhart.
»Laut Grundbuch dem Stift Klosterneuburg«, antwortete Schurrauer. »Wir haben uns mit dem dortigen Verwalter, nachdem die Mure abgegangen war, in Verbindung gesetzt, da wir damals noch vermutet hatten, dass die Skelette von einem stillgelegten Friedhof stammen könnten. Er konnte uns nicht
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