Wiener Schweigen
japanischen Touristen, die wie aus dem Ei gepellt aussahen und gegen die Hitze resistent zu sein schienen, die Hemden und Rockzipfel aufblähte.
Rosa ließ ihren Blick über den Dom gleiten. Das fahle Licht verwischte die Schatten der schlanken Türme und gotischen Ornamente, die an klaren Tagen wie feinste Spitzenarbeit aussahen. Das Gebäude wirkte heute flächig und einheitlich grau, wie ein riesiger Meteorit, der in die Innenstadt eingeschlagen war.
Ermattet lehnten Verkäufer von Tickets für das Residenz-Orchester in barocken Kostümen an der Balustrade des U-Bahn-Abgangs gegenüber dem Stephansdom. Sie hatten in ihrer Jagd nach Touristen eine kurze Pause eingelegt und standen nun müde in ihren rüschenbesetzten Hemden, bunten Kniehosen und Schnabelschuhen herum, rauchten und tranken Energydrinks aus Dosen. Ihre billigen Mozartperücken lagen der Reihe nach auf der Balustrade. Rosa musste an den Sturm auf die Bastille und die abgeschlagenen Köpfe der Adeligen, die auf den Zäunen aufgespießt worden waren, denken, als sie ihren Blick über die Haarteile schweifen ließ.
Am Tisch rechts von ihr gaben sich zwei ältere Wiener Damen, wahrscheinlich Hofratswitwen, den Cremeschnittentod. Ihren Pudel streichelnd, der zwischen ihnen auf einem Sessel saß, unterhielten sie sich schnatternd und ließen dabei Diabetikersüße in ihre Melange fallen.
Ein distinguiert aussehender Herr am Tisch links von ihr strahlte eine so unglaubliche Ruhe aus, dass sie sich für die kurze Zeit, die sie ihn beobachtete, anstecken ließ. Er trug einen hellen Sommeranzug aus Leinen und ein beigefarbenes Hemd, ein Panamahut lag auf einem Sessel neben ihm. Die Wolke eines leichten, angenehm duftenden Rasierwassers umgab ihn. Feiner Orienttabak stieg Rosa von der Zigarillo, die er rauchte, in die Nase. Sie sog ihn genüsslich ein und sehnte sich wie nie zuvor danach, auch eine zu rauchen. Er las, zurückgelehnt und mit überschlagenen Beinen, die Zürcher Zeitung und hatte einen Einspänner auf einem kleinen Tablett vor sich stehen. Rosa beneidete ihn um seine Muße; wie gern hätte sie auch die Ruhe besessen, die von ihm ausging.
Um halb zehn bezahlte Rosa und fuhr zu Liebharts Büro. Im Vorraum stampfte Frau Grand hinter ihrem Schreibtisch und zwischen den Aktenschränken hin und her. Ihr Mund war ein einziger Strich. Als Rosa grüßte und an ihr vorbeiging, knallte Frau Grand einen Ordner auf ihren Schreibtisch.
Liebhart teilte Rosa mit, dass Schurrauer gestern bis spät in die Nacht das Pfarramt gemeinsam mit dem Brandteam aus Wien untersucht und dabei Reste eines Molotowcocktails gefunden habe. Den fleißigen Bewohnern des Kahlenbergerdorfes sei es nicht gelungen, die Spuren des Brandherdes vollständig zu vertuschen.
Dann gab er ihr einen kurzen Überblick über den Verlauf seines Gesprächs mit dem Justizminister. Der Abgang der Mure war natürlich längst in den Nachrichten erwähnt worden. Der Justizminister und er hatten vereinbart, nichts vom Kannibalismus vor der Presse zu erwähnen. Liebhart hatte streckenweise das Gefühl gehabt, der Justizminister halte ihn für übergeschnappt.
»Wahrscheinlich sitzt er jetzt totenbleich über dem Bericht von Professor Wankel«, meinte er abschließend.
Sie setzten sich, und Rosa schilderte ihre Entdeckung. »Wie schon am Telefon kurz angedeutet, habe ich herausgefunden, woher der seltsame Abdruck auf der Stirn Andrzejs gekommen ist.«
Liebhart lehnte sich interessiert vor. Rosa zog einen großen Bildband über Ikonen aus ihrer Tasche.
Sie schlug das Buch an einer markierten Stelle auf und wies mit dem Finger auf eine Christusikone. »Das ist ein Oklad, eine Ummantelung aus Edelmetall, die an Ikonen angebracht wird, um sie vor den Küssen und Berührungen der Gläubigen zu schützen. Es gibt zahlreiche Formen dieser Ummantelungen, aber das tut jetzt nichts zur Sache.« Sie kramte eine Lupe und das Foto von dem Abdruck auf Andrzej Zielińskis Stirn aus ihrer Tasche hervor und hielt Liebhart beides hin. »Derjenige, der ihm eine verpasst hat, hat ihn vorn auf der Stirn getroffen. Sieh dir den Abdruck an, er ist sehr breit. Ich habe es nachgemessen, sieben Zentimeter. Er muss also von einem Gegenstand ohne Krümmung herrühren. Vergleiche bitte das Foto der Obduktion mit den von mir gekennzeichneten Okladen.«
Liebhart blätterte zu der markierten Seite in Rosas Buch, um mit der Lupe den Rand der Ummantelungen genauer zu untersuchen.
»Das könnte hinkommen«, sagte er, »aber
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