Wiener Schweigen
Zielińskis Ikone hatte nicht so eine Ummantelung. Zumindest nicht auf dem Foto.«
»Ich denke auch nicht, dass es seine Ikone war, mit der er geschlagen worden ist. Es wäre doch möglich, dass der Mörder im Kahlenbergerdorf einen Kirchenschatz hütet. Andrzej hatte ein Brustkreuz in seinem Zimmer versteckt, vielleicht hat er einen Schatz gefunden und das Kreuz an sich genommen. Als der Mörder ihm auf die Schliche gekommen ist, hat Andrzej das mit seinem Leben bezahlt.«
»Rosa, das sind schon wieder halsbrecherische Vermutungen.« Liebhart rieb sich entnervt über das Gesicht.
»Ich glaube herausgefunden zu haben, wie der Schatz ins Kahlenbergerdorf gekommen ist.«
Liebhart verstummte.
Rosa hielt die Gelegenheit für günstig, sie setzte sich und fuhr fort. »Ich war am Sonntag in einem Heurigen im Dorf.«
Liebhart richtete sich auf und sah sie vorwurfsvoll an. »Ich weiß nicht, wie oft ich dir noch sagen muss, dass du so etwas nicht allein machen sollst.«
»Du kannst nicht als Wiener in deinem Anzug und mit Krawatte dorthin gehen und glauben, etwas aus den Bewohnern da herauszubekommen. Die sagen kein Wort.«
»Aber einem Polizisten werden sie antworten müssen.«
»Liebhart«, meinte Rosa mild und beugte sich etwas zu ihm über den Tisch, »ich bin sehr vorsichtig, aber ich glaube, dass du, selbst wenn du mit einem Polizeipanzer dort einfährst, nichts erfahren wirst.«
Er lehnte sich resigniert zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Andrzej ist hierhergekommen, um seine Ikone zu suchen. Er hat Erkundigungen über die Vorfahren von einigen Leuten eingeholt. Besonders interessiert war er an den Männern, die im Ersten Weltkrieg waren. Das haben die Leute beim Heurigen erzählt. Ich konnte, als ich das erfahren habe, nichts damit anfangen. Aber mit der Geschichte von Agnieszka Zieliñska ergibt alles einen Sinn. Von ihr wissen wir, dass die Ikone gestohlen worden ist, als Zofia Zieliñska vier Jahre alt war. Sie hat erzählt, dass Zofias Mutter sie und ihre zwei Brüder im Heu versteckt hat. Es ist ein heißer Sommer gewesen, und Zofia hat unter dem Heu kaum atmen können. Heute ist Zofia achtundneunzig Jahre alt, also wurde die Ikone im Sommer 1914 vom Hof in Zamość gestohlen. Und weißt du, was im Sommer 1914 in Zamość war?«
Liebhart schüttelte langsam den Kopf. Rosa griff in ihre große gelbe Tasche und zog einen historischen Atlas hervor.
Sie schlug ihn auf einer Seite auf, die mit einem Lesezeichen gekennzeichnet war. »Die Ostfront des Ersten Weltkrieges war dort! Zamość war 1914 ein umkämpftes Gebiet. Die k.u.k. Armee war damals sehr vielfältig, es gab neun Sprachgruppen. Die Armeen setzten sich aus Deutschen, Italienern, Österreichern, Serben, Slowaken, Slowenen, Tschechen, Kroaten, Polen, Rumänen, Ukrainern – damals hießen sie Ruthenen – und Ungarn zusammen. Auch aus Wien und Umgebung waren junge Männer rekrutiert worden. Im Hof der Kirche im Kahlenbergerdorf hängt eine Gedenktafel für die Gefallenen.«
Rosa deutete auf einen Punkt auf der Landkarte. »Am 23. August 1914 ist das k.u.k. Heer bei Kraśnik auf seinen russischen Gegner getroffen und hat angegriffen. Nach einer Woche waren die Russen fast umzingelt, Österreich konnte einen Sieg verbuchen. Danach haben sie weitere Siege bei Kraśnik und«, sie fuhr mit dem Finger auf der Landkarte weiter nach Südosten, »Zamość-Komarów errungen.«
Sie lehnte sich zufrieden zurück und sah Liebhart an.
»Und dort haben sie dann geplündert«, schloss Liebhart. »Das stimmt mit der Geschichte, die uns Agnieszka Zieliñska erzählt hat, überein.«
Rosa nickte. »Ich war vor acht Jahren auf einer Konferenz über restituierte Kunstgegenstände in Zürich. In den beiden Weltkriegen ist geraubt worden, was nicht niet- und nagelfest war.«
»Soldaten der k.u.k. Armee aus dem Kahlenbergerdorf sind also in Zamość eingefallen, haben am Hof von Zofia Zieliñska alle umgebracht, die sie dort angetroffen haben, und die Ikone geraubt.«
»Und nach dem Krieg sind sie hierher zurückgekommen. Mit der Ikone, wie Andrzej richtig angenommen hatte. Aus seinem Tagebuch wissen wir, dass er Ritzberg, Hofmacher, Setzensberger und Brandstätter aufgesucht hat. Wir wissen allerdings nicht, wie er auf diese Namen gekommen ist. Frau Zehetmair dürfte ihm ein paar genannt haben. Alles, was er über seinen Besuch bei ihr schreibt, ist …« Rosa nestelte in ihrer Tasche und nahm die Übersetzung von Andrzej Zielińskis Tagebuch
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