Wiener Schweigen
Mobiltelefon auf der Terrasse und wartete auf eine christliche Zeit, um ihn anzurufen. Trotz der schlaflosen Nacht war sie hellwach. Sie atmete tief die kühle Luft ein. Um sieben Uhr wählte sie Liebharts Nummer; er nahm sofort ab. Sie sprach schnell und hastig, versuchte, die wichtigsten Punkte für ihn zusammenzufassen. Auch Liebhart hatte Neuigkeiten für sie, und so verabredeten sie sich für zehn Uhr in seinem Büro.
Rosa war nach dem Gespräch und einem halben Liter Kaffee zu aufgewühlt, um sich noch einmal hinzulegen. Ein paar Minuten schlenderte sie durch den Garten und wusste nichts mit sich anzufangen. Sie entschied, jetzt schon nach Wien zu fahren, um dem Vormittagsverkehr zu entgehen und sich bis zur Besprechung mit einem Stadtspaziergang abzulenken. Sie schrieb es dem Schlafmangel und ihrer Unruhe zu, dass ihr die ländliche Idylle trügerisch erschien. Die violetten Blüten der Königskerzen, die entlang des Weges ins Tal wuchsen, waren ihr zu grell. Das Summen der Insekten machte sie nervös, die Sonne stach vom Himmel. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich in den Jahren, in denen sie auf dem Land lebte, so auf die Stadt gefreut hatte.
In einer knappen Stunde war sie im 1. Bezirk und fand, sie konnte es kaum glauben, am Neuen Markt einen Parkplatz. Der Morgen war nicht sehr verheißungsvoll, der Himmel noch von einer dünnen Wolkendecke zugezogen, die Hitze stand in den engen Gassen. Rosa drückte das Wetter aufs Gemüt. Sie beschloss, die nahe Kapuzinergruft aufzusuchen.
Das ist zwar auch nichts fürs Gemüt, aber wenigstens ist es dort unten angenehm kühl, dachte sie, als sie ihre Schritte Richtung Plankengasse lenkte.
Da zu ihrer Enttäuschung die Kaisergruft erst um zehn geöffnet wurde, machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.
Sie bog rechts in die Augustinerstraße ein und horchte auf das vertraute Klappern der Hufe der Fiakerpferde, die, vom Michaelerplatz kommend, auf dem Kopfsteinpflaster entlangfuhren. Rosa hatte einmal gehört, dass Fiakerkutscher noch vor nicht allzu langer Zeit ein beliebter Beruf von entlassenen Häftlingen ohne Führerschein gewesen war. Es war keine besondere Ausbildung für das Lenken der Kutschen notwendig, und niemand fragte nach der Vorgeschichte des Kutschers.
Als sie Richtung Burggarten schlenderte, wurde sie sich, wohl noch in Gedanken an die Kaisergruft, bewusst, dass Wien eine riesige Nekropole war. Unter dem Stephansdom und unter Teilen der Inneren Stadt waren mehr als fünfzehntausend Menschen bestattet. Nach vagen Schätzungen sollte das Areal einen halben Quadratkilometer groß sein.
Sofort fiel ihr das ehemalige Massengrab am Hang des Leopoldsberges ein. Sie blieb vor der Michaelerkirche stehen, deren Krypta bei Adeligen bis zur vorigen Jahrhundertwende sehr beliebt gewesen war. Alle wollten in der Nähe des kaiserlichen Hofes begraben werden. Der Platz für Bestattungen, der immerhin den gesamten Grundriss der Kirche umfasste, war bald zu eng geworden. So wurden die Grüfte bei Bedarf geräumt, die Särge verbrannt und die Toten mit einer dicken Schicht aus Erde und Sand in der Krypta begraben, über der heute die Besucher gingen.
Auf dem Graben herrschte reger Verkehr, der sich in der Fußgängerzone fortsetzte. Die beiden breiten Einkaufsstraßen durften nur am Vormittag befahren werden, um die Geschäfte zu beliefern. Wo sonst nur die Schritte und Stimmen von Touristen und ein paar wenigen Wienern von den Hausfassaden hallten, musste man sich am Vormittag in Acht nehmen, nicht von einem wütenden Zulieferer überfahren zu werden.
Rosa wurden die Autos bald zu viel, und sie ging zum Café Weinwurm gegenüber dem Stephansdom. Der Boden war hier, am größten Fiaker-Standplatz Wiens, feucht von der Straßenreinigung, die die Pferdeäpfel aus den tiefen Zwischenräumen des Kopfsteinpflasters schwemmte. Rosa setzte sich an einen der freien Tische, die vor dem Café Weinwurm unter weißen Sonnenschirmen standen. Nach einem Wiener Frühstück mit krachfrischen Semmeln und exzellentem Kaffee bestellte sie aus der frisch befüllten Mehlspeisentheke eine Erdbeertorte, die so saftig war, dass Rosas Dessertgabel wie von selbst in dem weichen Biskuitteig versank.
Rosa sah auf den Stephansplatz, über dem eine graue Dunstplatte hing, die von einer unsichtbaren Sonne aufgeheizt wurde. Gelegentlich fegte ein warmer Windhauch über den Platz, der einem Staub in die Augen trieb, die aufgespannten Sonnenschirme verdrehte und den knipsenden
Weitere Kostenlose Bücher