Wiener Schweigen
lachen oder sogar zum falschen Zeitpunkt? In der Kirche sein Knie vor dem Altar zu beugen, ohne zu zittern, vor den Mitbürgern seinen Hut zu ziehen mit immer der gleichen Bewegung?
Ein Donner, gefolgt von einer Blitzsalve, erschütterte das Tal. Rosa verabschiedete sich schnell von Liebhart, sie wollte heim, bevor das Gewitter richtig losging.
Als sie zu Hause ihre Tür aufsperrte, fuhr ihr eine Windböe unter den Rock und hob ihn hoch. Sie lief auf die Terrasse und sammelte schnell die Polster der Gartengarnitur ein. Zwei hatte der Wind in den Garten geweht, sie hingen schaukelnd in den Zweigen des Buchsbaumes. Rosa warf die Terrassentür zu und begab sich auf die Suche nach der Katze. Sie fand sie im ersten Stock unter ihrem Bett, das Tier glotzte sie mit großen Augen an. Erleichtert stieg Rosa die Treppe hinunter, sie mochte es nicht, wenn die Katze bei Unwetter außer Haus war.
Rosa goss sich einen Morellino aus der Toskana ein. Sie setzte sich auf das Sofa und ließ den kräftigen Geschmack des Weines nach schwarzen Beeren auf ihren Gaumen wirken. Vom Wohnzimmer aus sah die Landschaft wie von einem Bilderrahmen umrahmt aus: ein Drittel grüne Felder, zwei Drittel bedrohlich kupferfarbener Himmel. Die Wolken hatten sich zu einer Decke zusammengeballt, die sich nach Osten hinzog, der Wind wehte schwach, als ob er sich auf seinen großen Auftritt erst vorbereiten würde. Das grüne Heer der Buchen schimmerte stumm und schien abzuwarten. Der Donner grollte laut von weit her, rollte über den Himmel und schien minutenlang anzuhalten. Dann folgten kurz aufeinander mehrere trockene Blitzschläge, die die Buchengruppe auf dem Weizenfeld weiß und golden färbten. Bisweilen war der Abstand zwischen ihnen so kurz, dass die Schatten der Baumgruppen sich auf dem Boden abzeichneten. Die Fenster von Johannas Haus blinkten bei jedem Einschlag. Es brodelte in der dicken Wolkendecke, als wollten Blitz und Donner nach allen Seiten zugleich ausbrechen. Die Luft knisterte wie eine Hochspannungsleitung. Dann riss der Himmel wie eine Wasserblase auf, und der Regen hämmerte buchstäblich auf das Land. Der Wolkenbruch dämpfte das eigentliche Gewitter, und der Donner klang dumpfer.
Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Die schmalen Wege zwischen den Feldern hatten sich in eine ockerfarbene Rutschbahn verwandelt. Rosa öffnete die Terrassentür und trat in den vom Regen tropfenden Garten. Es duftete nach nassem Laub und Erde. Sie atmete tief ein und beschloss, den Abend bei einem Pastagericht ausklingen zu lassen.
* * *
Natürlich hatten die Alten dies und das angedeutet. Sich die Ereignisse dieser einen Nacht zugeraunt, wenn sie in dunklen Winternächten vor dem Kamin saßen.
Brandstätter hatte eine Pfeife in der Hand und sah besorgt auf die Reben, auf die die Blitze niedergingen. Er war damals noch nicht geboren, aber sein Großvater hatte das alles miterlebt. Er hatte erzählt, dass das Dorf nach der schrecklichen Nacht wie leer gefegt gewesen war. Die Bürger hatten zwei ganze Wochen in der alten Kirche gehockt, bis sie vom Beten wunde Knie hatten.
Er hatte damit nichts zu tun, war damals noch nicht auf der Welt gewesen und wusste nicht einmal heute genau Bescheid. Brandstätter zog an der Pfeife und beschloss, nach dem Regen zum Heurigen zu gehen.
16
Die Ferienzeit begann. Horden von Städtern trieb es an den heißen Wochenenden zu den Ziegelteichen oder zu den nahe Wien gelegenen Seen. Man begegnete ihnen in den Wäldern, wo sie nach dem verregneten Frühling unter den hohen Bäumen in greller Sommerkleidung nach Pilzen suchten. Sie fuhren in schnellen offenen Sportwägen über die Straßen und kehrten erhitzt in Heurigen ein.
Die Menschen in Wien wirkten nach dem gestrigen heftigen Gewitter gelöster, und die Häuser im 19. Bezirk sahen im hellen Sonnenlicht wie frisch lackiert aus. Rosa machte ein paar Besorgungen und steuerte mit einem Paket Zeitungen unterm Arm das Nussdorfer Café in der Greinergasse an, um an einem der kleinen runden Tische mit Korbsesseln einen Espresso zu trinken. Der Kellner sprühte mit einem Schlauch das Kopfsteinpflaster ab. Rosa hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie begutachtete eine Blase, die sie sich gestern in ihren Sportschuhen geholt hatte, als sie mit Johanna und Ludwig den Waldbachsteig hinaufgewandert war.
Sie hatte den Versuchungen der Glasvitrine nicht standhalten können und einen Schokoladenkuchen ausgewählt. Als ihre Bestellung gebracht wurde, tauchte sie ein
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