Wiener Schweigen
leichthin. »Wissen Sie, sie waren schon sehr alt und morsch«, fügte er launig hinzu und tippte sich mit dem Finger auf die Nase. »Ob das Ausgraben der Wurzelballen dazu beigetragen hat, dass der Hang abgegangen ist und das Massengrab freigelegt wurde, kann ich natürlich nicht sagen. Ein schreckliches Unglück, nicht wahr?«
Pfarrer Mullner sah ihnen nach, wie sie mit dem Auto davonfuhren.
Sie wollten zum »Gasthof zum Renner« beim Nußdorfer Platzl fahren, um dort etwas zu Mittag zu essen. Der Himmel zeigte sich unverschämt blau, und ein leichter Luftzug strich über die Landschaft.
»Armer Mann«, sagte Rosa, als Liebhart die Höhenstraße nach Wien zurückfuhr.
»Ziemlich demoralisiert, die Leute im Kahlenbergerdorf haben ihm wirklich nichts geschenkt«, pflichtete ihr Liebhart bei.
Sie beschlossen, im Garten zu essen. Rosa entschied sich für ein Holzofenschweinsbratl, Liebhart nahm ein Steak. Sie aßen schweigend und schnell. Rosa war gespannt auf den Zettel, den ihnen Pfarrer Mullner gegeben hatte, sie nahm an, dass es Liebhart nicht anders ging. Nach dem Essen bestellten sie zwei Espresso. Als sie den heißen Kaffee schlürften, griff Liebhart in seine Brusttasche und holte das Blatt Papier heraus. Rosa beugte sich vor, um besser sehen zu können, als er es auf dem Tischtuch ausbreitete.
Es war eine vergilbte Seite aus einem Kontobuch vom Herbst 1919, das Datum war in der rechten oberen Ecke vermerkt. In schräger Kurrentschrift waren die Einnahmen und Ausgaben in drei Tabellen vermerkt.
»Sieh einmal an: Am 1. Oktober 1919 gingen an die Pfarre St. Georg im Kahlenbergerdorf beachtliche Summen ein: fünfzigtausend Kronen der Familie Ritzberg, vierzigtausend Kronen der Familie Hofmacher, siebzigtausend Kronen der Familie Saatpichler, dreißigtausend Kronen der Familie Fuhrenbacher und so weiter und so fort«, las Liebhart vor und drehte das Blatt um.
»So viel Geld hat sonst nie jemand der Kirche gespendet«, meinte Rosa, die ihren Blick über die Tabellen vor und nach dem 1. Oktober laufen ließ.
Liebhart ließ das Blatt sinken und starrte über den gut besuchten Gastgarten. »Bußgeld!«
»Richtig, oder eher Büßergeld. Für die Nacht vom 29. auf den 30. September 1919, in der der Teufel mit den Bewohnern vom Kahlenbergerdorf getanzt hat.«
Liebhart sah auf die Uhr seines Mobiltelefons. »Wir müssen jetzt losfahren, sonst kommen wir zu unserem Termin bei Dr. Ahran zu spät.« Im Aufstehen zog er sich sein Jackett an und erklärte Rosa: »Er hat die Obduktion von Frau Zehetmair vorgenommen.«
Rosa hatte den Eindruck, in letzter Zeit viel zu oft bei Untersuchungen menschlicher Überreste dabei zu sein. Sie wünschte, während sie im Auto saß und hinter Liebhart herfuhr, dass das mit dieser ein Ende hätte.
Anfang des Jahres war das Gerichtsmedizinische Institut in Wien geschlossen worden. Obduktionen wurden, bis eine neue Lösung gefunden worden war, in den Spitälern der Stadt durchgeführt. Frau Zehetmair wurde deswegen im Sozialmedizinischen Zentrum Ost im 22. Bezirk untersucht.
Als Rosa von der Stadlauer Straße in die Langobardenstraße einbog, schüttelte sie sich wie jedes Mal, wenn sie die fleischfarbene Fassade des in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbauten Spitals sah.
Dr. Ahran litt, seitdem das Gerichtsmedizinische Institut aufgelassen worden war, unter seiner Heimatlosigkeit und klagte einem blassen Schurrauer, der schon im Sektionssaal wartete, sein Leid. Rosa wunderte sich über Schurrauers Anwesenheit, er war direkt vom Spital, aus dem er zu Mittag entlassen worden war, hierhergefahren, um bei dem Gespräch mit Dr. Ahran dabei zu sein. Sie drängte ihn, sich noch zu schonen, und er versprach, nachdem er die Ergebnisse von Dr. Ahrans Untersuchung erfahren hatte, nach Hause zu fahren.
Trotz der Hitze empfand Rosa die klimatisierten Räume der Sektionssäle nicht als angenehm. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Tod mit seiner Kälte nun auch in die Knochen kroch.
Auf einer Aluminiumbahre lagen die exhumierten Überreste von Frau Zehetmair. Rosa wünschte der alten Frau, dass sie nicht bei lebendigem Leib verbrannt war.
»Wieso sind die Knochen so grau?«, fragte Liebhart, nachdem er Dr. Ahran begrüßt hatte.
»Bei Temperaturen über elfhundert Grad verbrennt der Kohlenstoff, aus dem Knochen bestehen, und es bleiben nur ein paar kalzinierte Reste zurück.«
»Deuten diese hohen Temperaturen auf einen Brandbeschleuniger hin?«
»Anzunehmen«,
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