Wiener Schweigen
konnte aber außer Geröll nicht viel erkennen. »Was meinst du?«
»Da hat doch jemand … also, fällt euch das nicht auf?« Er drehte sich zu Rosa und Johanna, die erschöpft auf einem Baumstumpf Platz genommen hatte, um.
»Was denn?«, fragte nun auch Johanna.
»Seht ihr das nicht? Es sind fast keine Stämme und Wurzeln von Bäumen im abgegangenen Hang zu sehen.«
»Na, die sind mit der Mure in den Hafen geschwemmt worden, oder?«
»Da sind Bäume gestanden, die über hundert Jahre alt waren. Die Wurzeln müssen einige Meter tief in die Erde gereicht haben, die können nicht so einfach weggeschwemmt werden. Im Gegenteil, die Wurzeln halten den Hang. Irgendjemand muss nicht nur die Bäume abgeholzt, sondern auch noch die Wurzeln ausgegraben haben.«
»Wer sollte das denn gemacht haben?«, fragte Johanna.
»Die Kirche! Der Grund gehört bis zum Hafen dem Stift Klosterneuburg«, fand Rosa ihren Einfall, der ihr gestern vor der Trafik gekommen war, bestätigt.
Man hat vor neunzig Jahren fünfunddreißig Menschen auf Grund und Boden der Kirche in ungeweihter Erde verscharrt. Was ist da passiert, verdammt noch einmal, und wieso ist von dem Ereignis nie etwas nach außen gedrungen?, dachte sie.
Schurrauer hob müde die Hand, als er Rosa sah. Seine Wangen waren eingefallen, und er hing an einem Tropf.
Rosa war gleich nach ihrem Ausflug mit Johanna und Ludwig ins AKH gefahren. Nun stand sie verschwitzt und staubig vor dem Krankenbett. Die Schwestern hatten ihr gesagt, dass Liebhart vor einer Stunde da gewesen war.
»Wie geht es dir?«, fragte Rosa und zog sich einen Besucherstuhl heran.
»Ich kann morgen schon nach Hause«, antwortete er. »Etwas schlecht ist mir noch, und mein Schädel scheint zu zerspringen, aber sonst bin ich in Ordnung.«
»Ich nehme an, dass du schon mit Liebhart gesprochen hast?«
Schurrauer nickte heftig und verzog gleich darauf das Gesicht.
Rosa dachte, dass es keine gute Idee war, den Kopf nach einer Gehirnerschütterung so heftig zu bewegen.
Sie wartete ein wenig und fuhr dann fort. »Hast du irgendjemanden gesehen? Weißt du, wer dir den Stein in den Mund gelegt hat?«
»Ich hab niemanden gesehen, der Schlag ist von hinten gekommen. Ich hatte, nachdem ihr weggefahren wart, die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich hab nur ein Rascheln gehört und dann den Stein schnell in den Mund geschoben, bevor die Lichter ausgegangen sind.«
Rosa schmunzelte. »Schlauer Mann, du wolltest nicht, dass dir der Stein weggenommen wird? Und dummer Mann, du hättest daran ersticken können, wenn du anders gefallen wärst.«
»Das ist aber nicht passiert.« Er zwinkerte, so gut es ging. »Ich habe ihn in der Asche unter der ehemaligen Kommode mit den drei aufgebrochenen Schlössern gefunden. Liebhart hat mir schon erzählt, dass das Blut einer Frau drauf war.«
»Gott sei Dank bist du nicht so lange dort gelegen.«
Da Schurrauer immer wieder die Augen zufielen, verabschiedete Rosa sich und versprach, bald wiederzukommen.
Als sie den Gürtel Richtung Nordbrücke fuhr, entdeckte sie am Horizont dunkle Gewitterwolken. Ein heißer Wind drückte die schwüle Luft in die hohen Häuserschluchten. Auf der Höhenstraße konnte sie erkennen, dass der Himmel sich immer mehr zuzog. Sie hatte das Gefühl, dass die Wolkendecke sich langsam über ihr schloss.
Im Kahlenbergerdorf fuhr sie, auf der Suche nach einem Parkplatz, langsam am Pfarramt vorbei. Liebhart winkte ihr zu, er trug einen blauen Schutzhelm, sein Gesicht war von der schwülen Hitze gerötet. Er bat ein paar Arbeiter, den Bauzaun etwas zur Seite zu schieben, und Rosa durfte auf dem abgesperrten Areal parken.
Eine kleine Gruppe von Einwohnern folgte Rosa mit ihren Blicken aus verwitterten dunklen Gesichtern unter tief in die Stirn gezogenen Hüten und Mützen. Die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr standen schweigend abseits des Geschehens und beobachteten die Arbeit der Wiener Polizei. Rosa konnte Feuerwehrhauptmann Schinder erkennen. Er starrte sie an, ohne zu grüßen.
»Wie schaut’s aus?«, fragte sie Liebhart und hielt sich die Hand vor das Gesicht, da der starke, warme Wind ihr den Staub in die Augen trieb.
»Der Leiter des Pfarramts und seine Sekretärin wissen natürlich nichts von einer Brandbombe und haben auch keine Ahnung, wer sie im Pfarramt deponiert haben könnte. Sie sind am 10. Juni um zwölf Uhr mittagessen gegangen und haben, wie immer, wenn es heiß ist, ein Fenster offen gelassen. Obwohl das
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