Wiener Schweigen
Hause kam, war sie zu müde, um sich noch etwas zu kochen. Lustlos stand sie vor dem geöffneten Kühlschrank und starrte auf ihre Vorräte. Nach einer Weile legte sie sich eine geräucherte Forelle, die sie bei einem kleinen Fischgeschäft am Sellnersee erstanden hatte, auf einen Teller, bereitete sich eine Schüssel Salat zu und schnitt noch eine dicke Scheibe Bauernbrot ab. Während sie auf ihrer Terrasse sitzend in die Dunkelheit starrte, kaute sie gedankenverloren am für ihr Empfinden kargen Abendessen und dachte an die Besprechung in Liebharts Büro. Ihr schien die Lösung des Falls zum Greifen nahe. Nach zwei Stunden gab sie auf und stieg erschöpft in den ersten Stock hinauf, um sich schlafen zu legen.
Rosa verbrachte den nächsten Tag mit der Übersetzung des botanischen Atlasses. Sie konnte sich nur schwer konzentrieren, die hohe Temperatur machte ihr zu schaffen. Übellaunig betrachtete sie den Sommerhimmel, der sich strahlend und eintönig über die Landschaft zog. Sie bevorzugte einen bewegten Himmel und sich rasch änderndes Wetter. Alles andere empfand sie als lähmend und konnte nichts damit anfangen.
Die Übersetzer des Buches hatten ganze Arbeit geleistet und neben den deutschen Texten auch die Abbildungen der Blütenköpfe eingefügt. Das lockerte das Material etwas auf. Ihr blieb es trotzdem ein Rätsel, warum Andrzej sich das Buch hatte schicken lassen. Das Einzige, was sie feststellen konnte, war, dass er sich für die Flora der Region des Wiener Beckens interessiert zu haben schien. Sie bedauerte, dass er nicht mehr die Möglichkeit gehabt hatte, den Atlas zu lesen. Vielleicht hätte er Anmerkungen hinterlassen, die ihr weitergeholfen hätten.
Durch die Hitze flirrte die Luft über den Hügeln. Drei hochgewachsene Fichten, die Rosas Grundstück im Osten begrenzten, schwitzten Harz aus, und die Zikaden sangen im Gras. Der Horizont schien wabernd zu verschwimmen. Man konnte nicht mehr erkennen, wo das Land aufhörte und der Himmel begann. Die wippenden Blütenköpfe der Bougainvillea hingen träge herab.
»Du musst sie zurückschneiden«, sagte Paul.
»Zu müde«, brummte Rosa.
Ihre Arme lagen wie festgenagelt auf den hölzernen Lehnen ihres Gartensessels. Pauls Bild begann zu verblassen, sie zwang sich, ihn anzusehen, wollte, dass sein Körper wieder Konturen annahm.
»Du kannst doch nicht erwarten, dass Menschen ihre Zigaretten in einer Keramikmilz ausdrücken. Wie sieht eine Milz denn überhaupt aus?«
»Ich glaube, ich habe mich verhört! Du hast mir soeben eine Frage gestellt? Mir? Lass mich den Moment auskosten. Also: Hast du gewusst, dass die Milz wie ein Steak ohne Fett und Knochen aussieht?«
»Oh, vielen Dank! Ich weiß auch nicht alles. Aber wenn wir schon einmal dabei sind, den anderen auf die Schaufel zu nehmen, dann rate einmal, wer ich bin: Hüch möchte oinen Gemüschtwarenladen, in döm ich Ründerdung verkaufe, eröffnen. Johanna, kümmere düch um oine passene Ümmobülüe.«
»Das ist wirklich eine Frechheit. Die Rinderdungsache wäre auf jeden Fall ein Erfolg geworden … Oh, sie schläft. Wir sollten sie nicht –«
»Rosa, Schätzchen!«, brüllte Johanna und rüttelte an Rosas Schulter.
Sie blinzelte verschlafen in das runde Gesicht ihrer Freundin, das sich einen Zentimeter vor ihrer Nase befand. Ludwig stand verlegen lächelnd daneben.
Johanna grinste. »Deine Augenbraue zuckt so interessant.«
»Wo kommt ihr denn her?« Rosa streckte sich.
»Ludwig hat die ersten Aschenbecher-Entwürfe fertig und wollte uns seinen Katalog zeigen«, erklärte Johanna mit versteinerter Miene. »Ich war in Brunn und habe eine erstklassige Schinkenhaxe und einen Strick, an dem ich mich aufhängen möchte, erstanden«, setzte sie hinzu und sah Ludwig böse an. »Wenn du frisches Gemüse hast, machen wir einen Salat und sehen uns den Katalog an.«
Rosa blickte müde ins Tal, die Sonne stand tief, sie musste eingenickt sein. »Ja, alles da«, sagte sie und ging ins Haus.
Während Johanna Gemüse wusch und klein schnitt, bat Rosa Ludwig, ein paar Flaschen Wein aus dem Keller zu holen. Er tastete den gesamten Türrahmen ab, bis er den geheimen Lichtschalter fand. Sie wunderte sich jedes Mal, dass er die Stelle immer aufs Neue suchen musste.
Nachdem er mit den Flaschen zurück war, trug Rosa sie zu ihrem Steinbrunnen, der sich im östlichen Teil ihres Gartens befand. Sie stellte sie in einen Kübel und ließ ihn über eine Seilwinde in das dunkle Wasser
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