Wiener Schweigen
haben panische Angst, dass etwas von dem Kannibalismus durchsickert. Im Moment stehen wir mit dem Fall ziemlich an.« Genervt rieb er sich die Stirn. Er blieb bei Rosas Auto stehen.
Sie sah aus dem Fenster, über dem Wasser im Hafen tanzten Mückenschwärme. »Stimmt. Wir können ja wohl schlecht jedes Haus im Dorf filzen, um die gestohlenen Kunstgegenstände zu suchen«, pflichtete sie ihm bei.
Sie verabschiedeten sich, und Rosa ging zu ihrem Wagen.
An diesem Tag wehte der Wind von Süden. Er strich die Gassen entlang, wirbelte Staub auf und beutelte die Zweige der Glyzinien, deren Blätter auf die Terrassenbänke der Heurigen regneten. Der Ort lag still in der Mittagshitze, nur die Schläge der Turmuhr erklangen gedämpft.
Rosa wollte in Brunn einen Espresso trinken und danach eine Runde schwimmen gehen. Der Abend, an dem Mühlböck plötzlich vor ihrem Haus gestanden war, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hielt ihre Offenheit für unpassend und fragte sich, warum sie sich ihm gegenüber so gezeigt hatte. Abgesehen davon nervte sie der Stillstand im Fall Andrzej Zieliński genauso wie Liebhart.
Rosa nahm an einem der kleinen Kaffeehaustische Platz und versuchte, die Ereignisse, die sich um den Tod Andrzejs rankten, in einen neuen Zusammenhang zueinander zu setzen. Ihre Gedanken entglitten ihr jedoch immer wieder und sanken wie Steine in einen trüben See. Durch den Kaffee wurde ihr Kopf auch nicht klarer, nur ihre Hände begannen zu zittern, und ihr Magen rebellierte.
Wenn man im Kaffeehaus saß, konnte man die Oberfläche des Sellnersees durch den hoch stehenden Weizen der Felder sehen. Die Aussichtsboote, die Touristen von einem Ende des Sees zum anderen fuhren, sahen aus ihrer Perspektive aus, als ob sie auf einem goldenen Weizenmeer führen.
Sie schaffte es tatsächlich, für ein paar Sekunden dieses Bild einfach zu genießen; dann begann sie sich wieder den Kopf zu zerbrechen: über Daniel Mühlböck, über Paul und seine vermeintliche Botschaft an sie. Warum nur hatte er ihr nicht einfach eine Nachricht zu Hause hinterlassen? Verärgert kickte sie einen kleinen Stein weg, der unter dem Tisch lag.
Sie wusste, dass sie mit ihrer Grübelei nicht weiterkommen würde, und griff zu einer Frauenzeitschrift, die auf dem Tisch neben ihr lag. Lustlos begann sie, darin zu blättern, und erfuhr, dass Falten unter den Achseln in diesem Sommer so was von überhaupt nicht gingen. Der Artikel war mit Fotos diverser Prominenter aufgemöbelt, von denen sie noch nie gehört hatte und die schonungslos mit den entsetzlichsten Falten unter den Achseln abgelichtet worden waren. Entnervt warf sie die Zeitschrift auf den Tisch zurück.
Sie rief nach dem Ober, um zu zahlen, und machte sich auf den Weg zu ihrem Schwimmplatz am See. Bei ihren ersten Zügen hatte sie das Gefühl, als hingen ihr Mühlsteine an den Beinen, sie spannte sich an und beschleunigte. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und nachdem sie ihre gewohnte Geschwindigkeit erreicht hatte, schwamm sie zügig bis zum gegenüberliegenden Ufer und zurück.
Das öffentliche Strandbad wurde von Touristen und Einheimischen belagert, deren Handtücher knapp nebeneinander am Ufer lagen. Die Liegewiese wirkte vom See aus wie ein bunter Flickenteppich. Sie sah quietschende und johlende Kinder über eine gewundene gelbe Plastikrutsche ins Wasser schlittern.
Heute wollte sie ihre Schwester anrufen. Anna war drei Jahre älter als sie, verheiratet und hatte zwei Kinder. Andreas war sechs und Luise vier Jahre alt. Die beiden Schwestern hatten ein gutes Verhältnis, obwohl sie einander nicht oft sahen.
Als Rosa den Steg erreicht hatte und sich auf das von der Sonne aufgeheizte Holz fallen ließ, war ihr Kopf angenehm leer. Sie spürte ihr Herz gegen die Planken pochen, so sehr hatte sie sich verausgabt. Da sie von der gestrigen Gartenarbeit einen leichten Sonnenbrand hatte, zog sie sich bald ihre Jean über, schlüpfte in ein T-Shirt und setzte sich barfuß in den Wagen.
Johannas Auto stand nicht in der Einfahrt, und als sie die enge Kurve vor ihrem Haus nahm, konnte sie sehen, dass schon wieder ein Teil der Fahrbahn abgebrochen war.
Obwohl bereits Mittag vorbei war, hatte sie keinen Hunger. Sie wollte noch ein paar Zaunbretter annageln und Brombeeren pflücken, die sich wild um den windschiefen alten Schuppen ihres Gartens rankten. Rosa ließ ihre Finger an den dicken, mit Dornen bewachsenen Zweigen geschickt vorbeiwandern und erntete so eine kleine Schüssel
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