Wienerherz - Kriminalroman
brachte von einem Regal einen dieser Tablettcomputer, die man direkt mit Fingerberührungen am Bildschirm bediente, und tippte darauf herum.
»Sie haben die Ahnengalerie gesehen. Was dort nicht hängt, ist dieses Bild.«
Er drehte das Gerät so, dass Freund auch sehen konnte.
»Vielleicht haben Sie bei Ihren Recherchen diese Internetseite schon gesehen, wahrscheinlich nicht. Sie behandelt einige weniger bekannte Maler des zwanzigsten Jahrhunderts. Einer von ihnen hat meinen Urgroßvater Claus Dorin in dessen besten Jahren gemalt. Da ist er noch nicht der weißbärtige Patriarch in der Galerie. Dieses Bild lagert bei meinen Eltern in irgendeinem Archiv.«
Das Gemälde zeigte einen Mann, vielleicht Mitte dreißig, mit stolzem Blick und steifem Stehkragen, geschwungenem Schnurrbart und mittelgescheitelten, an den Kopf geklebten rotblonden Haaren.
»Eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder ist nicht zu übersehen«, stellte Freund fest.
»Fanden wir auch immer. Ich dagegen ähnle eher dem Vater meiner Mutter, Leopold entfernt unserem Großonkel Cornelius.«
»Vielleicht hatte schon Ihr Urgroßvater ein ähnliches Verständnis von ehelicher Treue wie einige seiner Nachkommen.«
»Mag sein. Ich habe ihn nicht gekannt.«
»Ich habe ein wenig in Ihrer Familienchronik geschmökert. Darin steht darüber natürlich nichts.«
»Was nicht bedeutet, dass es nicht vielleicht sehr wohl etwas zu schreiben gegeben hätte.«
»Vielleicht sollten wir den Verfasser fragen. Wenn es ihn noch gibt.«
»Professor Pandell.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ich erinnere mich an ihn. Er saß ein Jahr lang häufig in der Bibliothek meiner Eltern und studierte alte Dokumente.«
Mit seinem Telefon, das auch ins Internet kam, suchte Freund den Namen im Adressverzeichnis. Er fand eine Telefonnummer und rief kurzerhand an.
Der Professor meldete sich.
Nachdem Freund sich vorgestellt hatte, fragte er: »Sie haben vor fünfundzwanzig Jahren eine Chronik der Familie Dorin verfasst, erinnern Sie sich?«
»Das ist ewig her.«
»Ich weiß, dass das nach so langer Zeit viel verlangt ist, aber wissen Sie noch Details?«
»Nicht wirklich.«
»Sagt Ihnen der Name Cornelius Dorin etwas?«
Kurze Pause. Dann fragte Pandell vorsichtig: »Weshalb?«
»Herr Professor, es wäre wirklich wichtig.«
Tann-Dorin gab Freund ein Zeichen, ihm das Telefon zu reichen.
»Herr Professor Pandell, hier spricht Viktor Dorin, erinnern Sie sich an mich? Ich habe Sie oft in der Bibliothek besucht. Sie haben mir damals immer von Herodot erzählt.«
Freund hörte ein Wispern aus dem Telefon, verstand nichts.
»Danke«, sagte Tann-Dorin.
Freund konnte nur seinen Antworten lauschen.
»Es ist schwer für sie.«
Worüber sprachen die beiden?
»Das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Ich werde es meinen Eltern ausrichten.«
Tann-Dorin hörte weiter zu, runzelte die Stirn.
»Das ist ja interessant.« … »Wann war das?« … »Und was haben Sie ihm gesagt?« … »Die kenne ich schon. Gibt es sonst noch etwas zu meinem Großonkel?« … »Aber mein Großvater ist längst tot. Und ich möchte es wissen.« … »Doch, das können Sie.« … »Ja, wir können uns gern persönlich treffen.« … »Bei uns? In der Bibliothek?« … »Wann?« … »Fein. Ich freue mich.«
Er gab Freund das Telefon zurück.
»Das wird Sie interessieren: Ein paar Tage vor seinem Tod rief Florian bei dem Professor an und erkundigte sich ebenfalls nach Onkel Cornelius.«
»Da schau her. Und was hat er ihm gesagt?«
»Dass er die Briefe lesen soll. Aber die kennen Sie ja schon.«
»Darin habe ich nichts gefunden. Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten Sie auch noch einmal darüberschauen? Sie kennen Ihre Familie besser. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf.«
»Das mache ich gern. Es wird allerdings ein paar Tage dauern. Aber vielleicht weiß Professor Pandell noch mehr. Er hat so geheimnisvoll getan. Als gäbe es nicht nur die Briefe. Sie haben ja gehört, wie ich auf ihn einreden musste. Er will aber nur persönlich darüber sprechen, mit einem Mitglied der Familie. Allerdings ist er gerade unterwegs in Salzburg, zu einem Vortrag.« Er lachte. »Die meisten Pensionisten, die ich kenne, haben mehr Stress als alle arbeitenden Menschen zusammen. Wir treffen ihn am Freitag um zehn Uhr vormittags im Haus meiner Eltern.«
Freund radelte nicht den direkten Weg zurück ins Büro, sondern in den ersten Bezirk. Durch das Textilviertel die steile
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