Wienerherz - Kriminalroman
Marc-Aurel-Straße hinauf bis zum Hohen Markt, wo er rechts in die Wipplingerstraße einbog. Ein paar Meter hinter der Kreuzung band er das Fahrrad an ein Verkehrsschild.
Das Alte Rathaus war seit dem vierzehnten Jahrhundert im Besitz der Stadt. Seinen ursprünglichen Zweck erfüllte es jedoch schon seit 1885 nicht mehr, als der Gemeinderat in das neu erbaute Rathaus an der Wiener Ringstraße umzog. In dem prachtvollen Barockbau, an dem man noch gotische Elemente erkennen konnte, fanden die Wiener heute das Bezirksamt, das Bezirksmuseum Innere Stadt und das Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands. Das DÖW war 1963 gegründet worden. Ziemlich spät, fand Freund, wusste aber auch, dass die Gesellschaft und Politik im Nachkriegsösterreich von Weltkriegsteilnehmern und ehemaligen Anhängern der Nationalsozialisten geprägt wurde. Widerstandskämpfer galten lange Zeit als Verräter und Verbrecher. Zur Aufgabe hatte sich die Stiftung gemacht, den Widerstand gegen die Vorkriegsdiktatur und das nationalsozialistische Regime zu dokumentieren und wissenschaftlich aufzuarbeiten, ebenso wie die NS -Verbrechen, NS - und Nachkriegsjustiz, Restitution und Wiedergutmachung, aber auch Rechtsextremismus nach 1945. Unter anderem besaß es eines der umfangreichsten Archive zu den Opfern dieser Zeit.
Dorthin wollte Freund. Eine ältere Dame in Wolljacke und mit großer Brille empfing ihn.
»Ich suche nach einer bestimmten Person«, erklärte Freund. »Der Mann wurde während der Februarkämpfe 1934 erschossen. Sein Name ist Johann Pratt.«
»Das wird eine Weile dauern. Wenn Sie wollen, schauen Sie sich inzwischen die Ausstellung an.«
Die Frau verschwand in einem Nebenraum. Freund folgte ihrem Rat. Wie die meisten Österreicher seiner Generation hatte er von den Großeltern und Eltern nicht viel aus der Zeit erfahren, und wenn, dann nur Kriegsheldengeschichten. In der Schule hatte der Lehrer das Thema gestreift, aber als Weltkriegsveteran nicht gerade vertieft. Freund hatte sich interessiert und selbst informiert. Mit zwiespältigen Gefühlen erinnerte er sich an die heftigen Diskussionen mit seinem Vater während der sogenannten Waldheim-Affäre. Dem ehemaligen UNO -Generalsekretär und späteren Bundespräsidenten war im Wahlkampf die Verheimlichung seiner Mitgliedschaft im NS -Studentenbund und im SA -Reiterkorps sowie seiner Rolle als Offizier im besetzten Griechenland und Bosnien vorgeworfen worden. Freunds Vater gehörte zu jenen, die eine »Schmutzkübelkampagne« beklagten, während Freund die höchst überfällige Auseinandersetzung mit der beschönigten und verklärten Vergangenheit begrüßte. Die Ereignisse spalteten das Land wie später höchstens noch die Aufnahme der rechtsradikalen Haider-Partei in die Regierung. Immerhin berührte Politik die Menschen damals noch, dachte Freund, während sie die meisten heute nur mehr langweilte oder nervte, wenn sie sich überhaupt dafür interessierten.
Nach der zweiten Station der Ausstellung, »Der ›Anschluss‹«, merkte Freund, dass er momentan nicht die Ruhe dafür besaß. Er kehrte zurück ins Archiv.
Die Mitarbeiterin erwartete ihn mit einer schmalen Mappe.
»Das ist alles, was ich habe«, erklärte sie. »Die Opfer der Februarkämpfe wurden nicht zentral registriert. Auch wir besitzen nur unvollständige Aufzeichnungen. Johann Pratt findet sich in dieser Liste.«
»Gibt es zufällig ein Bild von ihm?«
»Was meinen Sie? Dass jemand mit der Kamera durchs Kugelfeuer gelaufen ist? Fotografieren war damals noch eine teure Angelegenheit.«
»Ich dachte, vielleicht auf den Bildern von Opfern.«
»Da konnte man nur den wenigsten Namen zuordnen. Außerdem wurden längst nicht von allen Fotos gemacht.«
»Wo könnte ich denn sonst Auskunft über so jemanden bekommen?«
»Vielleicht im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Dort sind zum Beispiel alle Personen festgehalten, die staatspolizeilich behandelt wurden.«
Sie wackelte mit dem Kopf.
»Aber wenn er erschossen wurde, interessierte das die Staatspolizei nicht mehr.«
Ein Unterschied zu heute, dachte Freund. Wenn jemand erschossen wird, interessiert sich die Polizei dafür und versucht den Täter zu finden.
»Ich fürchte, da werden Sie nichts finden.«
Wenn man will
Lia Petzold konnte es kaum erwarten. Freund war gerade zur Bürotür herein, schon fing sie ihn ab.
»Fladas Überwacher haben Interessantes gehört. Komm mit.«
Auf ihrem Computer spielte sie eine Tondatei ab. Die Stimmen klangen
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