Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
einsames Haus. Mein bescheuertes einsames Haus am Schlusspunkt der Welt. Südwestlich von München, nahe des Fünfseenlandes. In der Pampa, am toten Ende. Mit meinen beiden Graugänsen Waterloo und Austerlitz und ungefähr 100 auf Architektenpapier getuschten Haikus lebte ich hier ein beschauliches, verdammt verlassenes Leben.
In diesem Augenblick, als ich eine Flasche Chianti öffnete, wusste ich nicht, ob ich dieses Leben liebte oder hasste. In vino veritas. Ein gutes Glas würde mir die Wahrheit vielleicht eingeben. Falls ich sie überhaupt wissen wollte.
Nero war sich selbst gegenüber nicht aufrichtig. Statt mich direkt mit seinem Wunsch nach einem Leben als Paar zu konfrontieren, kochte er sein Sehnsuchtssüppchen im Geheimen. Er war dabei so empfindsam wie die Prinzessin auf der Erbse, selbst harmlose Bemerkungen konnten ihn tief verletzen. Doch anstatt seine Wunden zu zeigen, blieb er mit dem Schmerz allein, bis dieser zu einem Energieball heranwuchs, der den ganzen Nero bersten ließ. Diese Gefühlsausbrüche schockierten seine Umgebung; ihn selbst vermutlich noch mehr.
Außerdem war da noch seine Kollegin Sigrun West. Sie hatte ein Auge auf Nero geworfen. Das war mir spätestens seit gestern klar. Dieser Blick, den sie mir zugeworfen hatte, als sie die Jugendlichen aus der G-Bahn brachte! Sie hatte meine Angst um Nero genossen; ihre Macht über mich, weil sie Bescheid wusste und ich nicht.
Ich beschloss, meine Schultertasche auszuräumen. Wenn ich dabei war, aus der Fassung zu geraten, beschäftigte ich mich am liebsten mit lebenspraktischen Angelegenheiten.
Als Ghost schleppte ich allerhand mit mir herum: Stifte, Aufnahmegerät, Notebook inklusive Ersatzakku und Netzteil, ein Notizbuch, Adressbuch, Terminkalender. Handy, Zigaretten und Feuerzeug für Krisen, Kaugummi, Geldbeutel, Hausschlüssel und Autoschlüssel, MP3-Spieler und ein paar CDs, die ich im Auto hören wollte. In meinem Auto. Ich ließ den ganzen Krempel auf meinem Barbrett am Fenster liegen und trat vor die Haustür. In der Dämmerung leuchtete das Rot des Spiders noch tiefer, noch tomatiger. Ich könnte nach Italien fahren. Jetzt. Sofort. Über den Brenner rauschen, in Sterzing am Autogrill einen Espresso trinken und überlegen, wohin mich der Alfa weiter bringen sollte. Ich war nämlich frei. Freiberufler waren genau das: frei. Keine Chefs. Kein regelmäßiges Einkommen. Keine Dienstpläne. Nichts, was den freien Fluss der Kreativität hemmen könnte.
Ich legte meine Hand kurz auf die Schnauze des Wagens. Dann scheuchte ich Waterloo und Austerlitz in ihren Stall und verriegelte das Schloss.
Wie weit war es zum Brenner? Wenn ich Gas gab, gute zwei Stunden. Nachts waren die Straßen frei, und so ein neuer Wagen gab was her.
Ich hatte nichts getrunken. Der Chianti wartete drinnen auf mich. Es wurde kühl in Bayern. In der Basilicata knallte tagsüber noch die Sonne auf die Erde.
Wie soll das weitergehen, Kea?, hörte ich die mahnende Stimme meiner Mutter. Sie hatte mein ganzes Leben nichts als Zweifel gesät, Ängste geschürt, mich in Alarmstimmung gehalten. Keiner Sache kannst du dir je sicher sein, pflegte sie zu sagen. Schaffe was, dann hast du was. Was ist das überhaupt für ein Beruf, Journalistin. Willst du dein Leben lang den Leuten nach dem Mund reden? Frongängerin eines Chefredakteurs sein? Zum Fernsehen schaffst du es nie, dazu bist du zu lahm! Und nimm endlich mal ab. Muss der Flan noch sein? Warum Flan? Iss doch einen Magerquark. Du isst jetzt nicht den Flan!
Ich hasste Magerquark. Ich liebte Flan. Den hausgemachten, den jede spanische Hausfrau anders zubereitete: den flan casero. Vor Jahren hatte ich, noch ganz die rasende Reisereporterin, einen Bericht über spanische Desserts geschrieben. Die Recherchen hatten mir mindestens drei zusätzliche Kilos auf den Hüften eingebracht. Doch ich war nie glücklicher gewesen.
Ich meine, wer mochte schon Magerquark! Nein, im Ernst, niemand würde freiwillig Magerquark essen, wenn Flan zur Auswahl stand. Wer trotzdem nach dem Quark griff, hatte sich einschüchtern lassen von diesem Mistkerl im Kopf. Dem Zensor. Mutters Stimme. Kalt. Schrill. Genervt. Du machst nur Arbeit! Nur Zores hat man mit dir! Ich steck dich in ein Internat!
Ich ging ins Haus. Nahm einen großen Schluck Wein, legte eine CD mit Brahms’ Requiem auf, checkte mein Handy. Keine SMS. Also schaltete ich die Mikrowelle an und suchte in der Tiefkühltruhe nach dem Bœuf Bourguignon. Mit Fertiggerichten war ich
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