Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
dort über den Hügeln, ein winziger Rest Farbe in der schwarzen Nacht. »Liliana war wie ein Lamm. Sie machte alles mit. Nahm mich einfach hin, so wie sie den Gasableser hinnahm, die Kondolenzschreiben, die Rechnung für die Beerdigung.«
»Wie finden Sie Kontakt zu den Trauernden?«, fragte ich, weil es mich wirklich interessierte. Ich selbst war dem Tod einmal so nahe gewesen, dass ich seine Kälte noch jetzt spürte, da Neta erzählte. Oder lag es an ihrer Stimme, die einen sanften, unnahbaren Tonfall angenommen hatte, dass ich gefesselt war? War das eine Technik? War es angeboren?
»In Lilianas Fall haben mir ihre Freundinnen berichtet, was ihr zugestoßen ist. Der Unfall ihres Sohnes und der unerwartete Tod ihres Mannes. Das hatte ich als Hintergrundinfo. Dann machte ich am Telefon einen Termin mit ihr aus und fuhr einfach zu ihr. Sie war sehr nett, aber vollkommen überzeugt, dass ich meine Zeit verschwendete und ihre Freundinnen ihr Geld. Das geht den meisten Kunden so. In unserer Kultur ist das Geschichtenerzählen verloren gegangen. Es ist eine Kunst, die anderswo noch jeder Mensch mehr oder weniger gut beherrscht. Im Westen hat man sich daran gewöhnt, Geschichten als Fantasieprodukte zu sehen, die letztlich nichts mit uns selbst und unserer Wirklichkeit zu tun haben. Aber so ist es nicht.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »So ist es absolut nicht.«
»Ich war früher Reisejournalistin. Ich weiß, was Sie meinen.« Plötzlich fragte ich mich, ob meine kreative Auszeit so hilfreich war. Mir fehlte das Schreiben.
»Ich sprach ein wenig mit Liliana, wie ihr Leben so aussieht«, fuhr Neta fort. »Ihr Alltag, ihre Morgen und ihre Abende und die Zeit dazwischen. Wie es ihr in der Nacht geht. Was sie noch vorhat. So finde ich meistens heraus, was im Leben eines trauernden Menschen momentan am bedrückendsten ist. Das hilft mir, kleine Schritte für jetzt sofort zu finden. Winzige Verbesserungen, Lichtquellen, Augenblicke der Entspannung, die unmittelbar möglich sind. Bei Liliana waren die Nächte das Zermürbendste. Sie war fast komplett schlaflos in den ersten Wochen nach dem Tod ihres Mannes. Schlief maximal eine oder zwei Stunden, dann wälzte sie sich im Bett herum, stand schließlich auf und wanderte umher, bis es hell wurde. Nicht nur die Trauer erschöpfte sie, auch die Schlaflosigkeit.«
Nächte waren potenzielle Feinde. Das wusste ich nur zu gut. Nur ab und zu spielten sie Verbündete, indem sie für Inspiration sorgten. Nachts konnte ich gut schreiben, wenn die Muse mich küsste. Aber meine Arbeit war eigentlich nicht besonders von Erleuchtung abhängig. Ich schaffte, was ich schaffen musste, mithilfe eines klar strukturierten Tages. Und mit Disziplin.
»Ich erzählte ihr eine Geschichte, in der die Nacht die Hauptfigur ist. Sie wird in der Geschichte als grausam gezeigt, hat aber im tiefen Inneren auch ihre Qualen zu erleiden, wodurch ihre Kälte, ihre Finsternis und Brutalität verständlich werden. Meistens verliert die Nacht für den Trauernden so die Schärfe.«
Faszinierend, dachte ich. Ich war jemand, der an die Macht der Fantasie und der Gedanken glaubte. Sich eine Sache vorzustellen, machte sie wenigstens im Inneren wirklich. Und was man im Kopf besaß, gehörte einem in der Wirklichkeit. Wir gingen weiter, schneller jetzt, da die Kälte des Abends durch unsere Kleider kroch. Ich sah meinen Atem als Wolke vor meinem Gesicht.
»Als ich mich von Liliana verabschiedete, begann sie zu weinen. Ich nahm sie einfach in den Arm, drückte sie und fragte sie, ob ich wiederkommen dürfte. Sie sagte Ja. Bei jedem meiner Besuche sind wir einander dann nähergekommen. Haben uns unsere Leben erzählt. Sie von ihrem Mann und ihrem Sohn, von ihren Geschwistern, die auch schon alle tot sind, ich von meiner Mutter, meinen Verwandten, meinem vermurksten Leben.«
»So vermurkst kann es nicht sein, wenn Ihnen quasi eine Mutter zuläuft«, bemerkte ich. Es schleppte doch jeder, aber absolut jeder, ein demoliertes Selbstbewusstsein mit sich herum.
»Diese letzten Monate mit Liliana waren die glücklichsten in meinem ganzen Leben«, bemerkte Neta. »Nun habe ich eine Mutter. Eine richtige. Eine, die mich liebt und mich nicht maßregelt!« Sie winkte ab. »Das klingt jetzt kitschig. Blöd. Abgeschmackt.«
»Nein, klingt es nicht.« Ich sollte Neta fragen, ob sie eine Ghostwriterin suchte, um ihre Biografie zu schreiben. Das ganze roch nach Roman.
»Wissen Sie, was unser größter Fehler im
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