Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
gab. Juliane hatte mir neulich auseinandergesetzt, dass es sich bei der Massenhysterie um eine Kampagne der Pharmaindustrie handelte, die ihren Umsatz um einige Milliarden steigern wollte und die Panik im Sinne einer Marketing-Kampagne gezielt anfachte. Keine Ahnung, aus welchem roten Kassiber Juliane, die letzte Sozialistin von Oberbayern, diese Weisheit hatte, aber es könnte was dran sein. Ich zahlte meine Sachen und setzte mich an einen Tisch am Fenster. Der Cappuccino schmeckte wässrig, ja, Oma Laverde, wirklich die reinste Lorke, und die Semmel war trocken wie Stroh, aber ich hatte Hunger. Die Ärztin eilte mit ihrem Tablett in eine Ecke, schlürfte gierig ihre Suppe. Sie war stark geschminkt, wahrscheinlich, um die Übermüdung durch die vielen Nachtschichten zu kaschieren. Was tat ich hier noch? Ich würde zu Neta raufgehen, Hallo sagen, dann nach Hause rauschen und mich aus der Geschichte ausklinken. Nicht aus der Weltgeschichte, aber aus diesem Drama um Neta und Liliana und absurde Verdächtigungen. Mein Kopf brummte. Vielleicht war eine Auszeit doch nicht der Hit. Ich brauchte keine Auszeit, ich brauchte Ablenkung, ein Projekt, einen Plot, Action and Destraction, schon wieder ein selbsterzählter Witz. Ich lachte leise auf. Ob Neta mit ihren Erzählkünsten der Mutter des verstorbenen Jungen helfen könnte? Aber das kam wohl nicht infrage, einerseits für Liliana da zu sein und andererseits für die Konkurrenz. Die Ärztin räumte ihren Becher in das Regal mit dem Schmutzgeschirr und eilte davon. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Ich grinste. War dumm. Oder auch nicht. Wie hätte ich das zu diesem Zeitpunkt wissen können. Mag sein, dass in meinem Kopf irgendetwas klick machte; wenn es so war, dann achtete ich nicht darauf.
Ich stellte meine Sachen ebenfalls weg und machte mich auf zu Netas Zimmer.
Die Tür stand offen.
»Sie war so unruhig, wir mussten ihr ein Beruhigungsmittel geben«, hörte ich eine weibliche Stimme.
Ein Mann hielt dagegen: »Überdosierung, Himmel Donnerwetter!«
Eine Kakofonie panischer Stimmen folgte. Dann hörte ich Liliana toben. Sie schrie, weinte, jaulte, brüllte. Ich rannte.
Neta lag auf dem Bett, weiß wie Neuschnee, die Augen geschlossen. Ihre Glieder zitterten. Schweiß bedeckte ihr zerschundenes Gesicht. Liliana krümmte sich an ihrer Seite. Zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern standen um das Bett.
»Was ist hier los?« Ich packte Liliana am Arm. »Was ist mit ihr?«
»Koma!«, sagte ein Arzt.
»Koma?« Ich schaute auf Neta. Der Kopfverband war abgenommen worden, und bis auf die Hämatome und das ungewaschene Haar sah sie schon wieder ganz manierlich aus. Abgesehen von der tödlichen Blässe.
Das Heckmeck im Zimmer brachte meinen Puls auf Touren. Jeder tat irgendwas, raste herum, gab Kommandos, schleuderte Wortfetzen in den Raum. Ich sah Netas totenblasses Gesicht an.
»Sie krampft!«, schrie ein Arzt. »Sauerstoff!«
Ich drehte mich zu Liliana. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Nicht mein Kind«, flüsterte sie. »Nicht meine Tochter.«
Ich wollte etwas sagen, sie beruhigen, sie trösten. Aber Zuversicht zu verbreiten, während ein Leben offensichtlich zu Ende ging, gehörte nicht zu meinen Stärken. Ich war überhaupt der Ansicht, dass das Grauen durchlebt werden wollte. Lilianas Haar hing wirr um ihr Gesicht. Die kunstvolle Hochsteckfrisur hatte sich aufgelöst. Rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen.
»Nicht mein Kind!«, schrie sie und fiel der Krankenschwester in den Arm, die sie vom Bett wegführen wollte. »Eben war doch eine Ärztin da! Sie hat nach ihr gesehen, ich habe sie aus dem Zimmer treten sehen, als ich herkam. Da konnte es meiner Neta noch nicht schlecht gehen! Sonst hätte die Ärztin bestimmt was gesagt!« Schluchzend brach Liliana auf einem Stuhl zusammen.
»Ärztin?« Die Krankenschwester, die Lilianas Arm immer noch berührte, schüttelte den Kopf. »Heute hat hier keine Ärztin Dienst. Nur Dr. Reuter und Dr. Hübner.« Sie wies mit dem Kinn auf die beiden Männer, die sich mit versteinerten Mienen an Neta zu schaffen machten.
»Doch, eine Ärztin«, beharrte Liliana. »Schmal, zierlich, blond. So langes Haar.« Sie hielt die Hand auf Kinnhöhe. »Ich habe sie nur von hinten gesehen, aber …«
»Moment!« Ich raste zur Tür und lief.
Ließ die Aufzüge links liegen. Nahm zwei Stufen auf einmal, galoppierte die Treppen hinunter, hörte meine Absätze wie Pferdegetrappel, Galoppel, Galoppel. Am Eingang zur
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