Wikinger meiner Traeume - Roman
eilten alle hinterher, auch Rycca, die sich neugierig fragte, wie ihr Gemahl die Schwierigkeiten meistern würde. Nach der Erklärung des Kaufmanns zu urteilen, ging es um einen schwerwiegenden Diebstahl. Außerdem musste man befürchten, die anderen Händler würden den Hafen Landsende nicht mehr für einen sicheren Ankerplatz halten. Sie bezweifelte nicht, dass Dragon solche Bedenken schnell zerstreuen würde, und die Frage lautete nur – auf welche Weise?
Von einer großen Schar begleitet, erreichte sie den Eingang zur Halle und entdeckte einen schäbig gekleideten Jungen, den man offensichtlich unsanft behandelt hatte. Über seine linke Wange zog sich eine Schramme, seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Der vermeintliche
Dieb wirkte völlig verängstigt, unter diesen Umständen kein Wunder. Aber er hob herausfordernd den Kopf und versuchte sich trotz der Fesseln kerzengerade aufzurichten, als ihn ein Wachtposten über die Schwelle stieß.
In der Halle drängte sich Rycca an den Leuten vorbei und huschte hinter einen der hölzernen Pfeiler, die das Dach stützten. Da sie nicht wusste, was Dragon von ihrer Gegenwart halten würde, wollte sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen. Doch sie war fest entschlossen, die Ereignisse zu beobachten.
Dragon setzte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne, den er bei den Mahlzeiten benutzte. Aus diesem Anlass war er vor die herrschaftliche Tafel gestellt worden, für alle Anwesenden sichtbar. Der aufgeregte Kaufmann bahnte sich gebieterisch einen Weg durch die Menge, von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt, und ergatterte einen Platz in der Nähe des Jarls. Empört starrte er den Jungen an, der zu seinem Richter geführt wurde.
Schweren Herzens bemerkte Rycca das unverhohlene Entsetzen des Jungen, denn es würde den Verdacht gegen ihn noch erhärten. Eine Zeit lang musterte Dragon ihn schweigend. Unter diesem forschenden Blick hätte sich so mancher erwachsene Mann zusammengekrümmt. Stattdessen hielt der Junge den Kopf hoch erhoben. Noch erstaunlicher – er schaute dem mächtigen Kriegsherrn, der über Leben oder Tod entscheiden würde, unverwandt in die Augen.
»Wie heißt du?«, fragte Dragon schließlich.
»Olav, Mylord«, antwortete der Junge mit bebender Stimme, aber klar und deutlich.
»Aus welcher Familie?«
»Ich gehöre zu den Ragnarsons, die in Hedeby leben.«
Langsam nickte Dragon. Der Junge entstammte dem größten Handelszentrum von Jütland – ein Däne, aus einer angesehenen Familie. Bei jedem Urteilsspruch musste der Jarl das
Für und Wider sorgfältig abwägen. Doch in diesem Fall war besondere Vorsicht geboten. »Warum hast du Master Trygyv auf seiner Reise begleitet?«
Als der Kaufmann antworten wollte, brachte Dragon ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen. »Ihr werdet bald zu Wort kommen, Master Trygyv. Jetzt soll der Junge sprechen.«
Der Angeklagte zögerte, die Wangen feuerrot. Widerstrebend erklärte er: »Da ich Hedeby für eine Weile verlassen musste, fragte ich Master Trygyv, ob ich auf seinem Schiff arbeiten dürfe, und er stimmte zu.«
»Ich verstehe. Und wieso hast du deiner Heimat den Rücken gekehrt?«
Unsicher kaute der Junge an seiner Unterlippe, und der übereifrige Händler wollte sich wieder einmischen. Nur Dragons strenger Blick hielt ihn davon ab.
»Ich erregte den Unmut meines Vaters«, gestand Olav nach einer langen Pause. »Und da sagte er, ich soll ihm aus den Augen gehen.«
»Womit hast du diesen strengen Tadel verdient?«, fragte Dragon.
»Nun ja – ich wollte die Frau, die er für mich ausgesucht hat, nicht heiraten.«
Erst vor kurzer Zeit mit einem ähnlichen Problem konfrontiert, verbarg Dragon seine Überraschung. »Ein ehrenwerter Sohn gehorcht seinem Vater.«
»Oh, ich bin ehrenwert!«, stieß Olav hervor. »Aber es gibt gewisse Grenzen.« Er schaute sich um, in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der ihm zustimmen würde. Doch er sah nur abweisende Mienen. Verzweifelt fuhr er fort: »Die Lady ist zwanzig Jahre älter als ich, dreimal verwitwet. Außer ihrem Reichtum weist sie keinerlei Vorzüge auf. Darf man mich verdammen, wenn ich mir eine Braut wünsche, die nicht nur Geld und Gold in mein Haus bringt?«
»Und in dein Bett!«, rief jemand, und das Publikum lachte. Verwirrt runzelte Olav die Stirn, dann brachte er ein schwaches Lächeln zustande.
»Um deine persönlichen Probleme geht es hier nicht, meine Junge«, entschied Dragon, »sondern um den wertvollen Kelch.
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