Wikinger meiner Traeume - Roman
schreckte vor keiner Mühe zurück.« Trygyvs Anklage schien ihn tief zu kränken.
Diesmal nickten einige Leute. Das bemerkte der Kaufmann. Hastig betonte er: »Von seinem eigenen Vater wurde der Bursche verstoßen, Lord Dragon! Und ich war so dumm, dem kleinen Schurken zu trauen. Aber kann man mir verübeln, dass ich einem verzweifelten Jungen helfen wollte? Hätte ich geahnt, welche Natter ich an meiner Brust nährte...« Mit erhobener Stimme wandte er sich an die versammelte
Menge. »Soll man einem Jungen glauben, der die Wünsche seines Vaters missachtet und seine Familie entehrt? Oder muss man einen Burschen verachten, der aus seinem Heim verbannt und wie ein Wolf auf die freie Wildbahn gejagt wurde?«
Wieder nickten einige Leute, und Dragon schenkte dem rundlichen Händler ein seltsames Lächeln. »Auch ich wurde von einem grausamen Schicksal aus meiner Heimat vertrieben, Master Trygyv, ebenso wie mein Bruder, der – wie Ihr Euch vielleicht entsinnt – den Namen Wolf trägt. So wurde er nach seiner Geburt nicht getauft – und ich nicht Dragon. Diese Namen erwarben wir erst später, in die weite Welt hinausgescheucht, ohne Freunde und Verwandte.«
»Nicht durch Eure Schuld, Lord Dragon! Deshalb dürft Ihr Euch nicht mit diesem Jungen vergleichen, der wegen seines ehrlosen Verhaltens davongejagt wurde. Und jetzt ist er auch noch ein Dieb.«
»Das steht noch nicht fest, Master Trygyv. Außer Eurem Verdacht habe ich nichts gehört, was ihn belasten würde.«
Im Schatten des Pfeilers atmete Rycca auf. Gespannt wartete sie ab, wie ihr Gemahl das Problem lösen würde.
»Lasst ihn foltern, Lord Dragon!«, forderte Trygyv. »Zwingt ihn, die Wahrheit zu gestehen!«
Ein Raunen ging durch die Menge. Mehrere Männer erörterten, ob diese Forderung recht und billig wäre. Immerhin entsprachen solche Maßnahmen der Tradition. In aller Welt folterte man Angeklagte, um ihnen die Wahrheit zu entlocken. Würde der Jarl von Landsende anders verfahren, wäre es höchst merkwürdig.
»Von Schmerzen gepeinigt, wird ein Mann alles gestehen«, entgegnete Dragon in ruhigem Ton.
»Ich nicht!«, rief Olav, wachsbleich und beklommen, aber in der Pose eines stolzen Kriegers. »Niemals würde ich klein beigeben! Mit diesem Diebstahl habe ich nichts zu tun. Und
was immer man mir antun mag, ich werde niemals etwas anderes sagen!«
»Seht Ihr, wie er sich aufspielt, Lord Dragon?«, kreischte Trygyv. »Dieser dreiste Kerl, der sich am Boden winden müsste, nachdem er seiner Familie Schande bereitet hat! Glaubt mir, Ragnar von Hedeby wird Euch danken, wenn Ihr ihn von einem so elenden Sohn befreit.«
»Ich kenne Ragnar von Hedeby.« Obwohl Dragon seine Stimme nicht erhob, drangen seine Worte bis ans andere Ende der großen Halle. »Oft genug habe ich Geschäfte mit ihm gemacht. Gewiss, er ist ein harter Mann, und er würde es nicht dulden, wenn ihm irgendjemand in die Quere käme – was auch für seinen Sohn gilt. Aber er ist kein Ungeheuer. Und der Tod des Jungen würde ihn mit tiefer Trauer erfüllen.«
Sichtlich erschüttert, zwischen Hoffnung und Angst hin und her gerissen, senkte Olav zum ersten Mal den Kopf. Nicht schnell genug – und so hatte Rycca die Tränen in seinen Augen gesehen.
Von diesem Anblick bewegt, trat sie entschlossen vor, und ihr plötzliches Erscheinen verblüffte die Menge. Hörbar schnappten die Leute nach Luft. Aber sie ignorierte das Aufsehen, dass sie erregte, ebenso wie die rasenden Schläge ihres eigenen Herzens. Hastig stellte sie sich neben ihren Gemahl. Ehe er zu Wort kam, neigte sie sich hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich weiß, ich mische mich in Dinge ein, die mich nichts angehen. Trotzdem muss ich mit dir reden.«
»Lady, ich bin beschäftigt«, erwiderte er und bezähmte seine Überraschung. »Hier steht ein Menschenleben auf dem Spiel.«
»Darüber will ich mit dir sprechen – allein. Bitte, hör mich an.«
Dem flehenden Klang ihrer Stimme konnte er nicht widerstehen. Immer noch verwundert, stand er auf. »In ein paar
Minuten komme ich zurück«, versprach er dem Publikum und führte seine Frau in den Hof hinaus.
Hinter der Küche blieb er stehen. Dieses Haus war leer, weil alle Frauen die Gerichtsverhandlung in der Halle verfolgten. »Allzu viel Zeit dürfen wir nicht verschwenden, Rycca. Weißt du irgendetwas über diese Angelegenheit?«
»O ja, Trygyv lügt.«
»Hast du etwas beobachtet?«
»Nein. Trotzdem durchschaue ich ihn.« Inständig hoffte sie, er würde sie
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