Wild (German Edition)
schauderte bei dem Gedanken. Meine Sehnsucht nach Lucky war wie eine Wunde, von der man immerzu den Schorf abriss, sodass sie nie wirklich heilen konnte. Ich wartete darauf, dass Ricarda etwas hinzufügen würde, einen Satz wie: »Hoffentlich bist du dann noch da«, aber sie schien es für selbstverständlich zu halten, dass ich dann noch bei ihnen war.
»Na, wenn du meinst«, murmelte ich. Auch nach meiner richtigen Mutter sehnte ich mich. Nach meinem Vater. Nach unserer Wohnung und meinem Zimmer und meinem Leben.
Ich kroch ins Zelt. Benni saß da und spielte mit seinen Stöckchen. Er sah nicht einmal auf.
»Weißt du, wo der Mantel ist? Jeskas Mantel?«
Ich öffnete den Korb mit den Kleidern. Wie blödsinnig, alle diese Sachen mitzuschleppen, von einem Ort zum anderen! Jeden Knopf, jedes abgewetzte Stück Stoff. Immer auf der Flucht vor den Jägern. Wie konnten sie so leben? Ich jedenfalls konnte es nicht. Der Streit darüber, ob man sich gegen die Mörder wehren durfte oder nicht, kam mir völlig unsinnig vor. Paulus und Alfred und ihr heimlicher Krieg gegeneinander! Ging es überhaupt um die Regs? Oder ging es beiden nur um Gabriel? Benni wisperte etwas Unverständliches. Seine Augen wurden groß und rund. Da erst begriff ich, was ich hörte.
Das Wapp-wapp-wapp eines Hubschraubers.
Unwillkürlich duckte ich mich, obwohl mich im Zelt sowieso niemand sehen konnte. Mein Mund war trocken, als ich wieder nach draußen kroch.
Ricarda nähte nicht mehr. Auch sie saß völlig still, das Gesicht von Entsetzen verzerrt. Zum Glück hatten wir die Netze noch nicht abgenommen. Ziemlich unwahrscheinlich, dass die Regs uns von oben gesehen hatten. Oder?
»Sie gehen dort hinten runter, ungefähr ein, zwei Kilometer entfernt.« Jakob und Gabriel eilten durchs Lager, hinter sich Orion, Lumina und ein paar andere. Rasch versammelten sich die Leute, jeder hatte den Hubschrauber gehört.
»Versteckt euch«, gebot Gabriel. »Haltet die Kinder ruhig. Wir werden Wachen rund ums Lager aufstellen, und ich werde versuchen, sie in die falsche Richtung zu locken.« Die beiden Männer übernahmen das Kommando mit einer Selbstverständlichkeit, die niemanden zu überraschen schien. Sie wirkten wie ein eingespieltes Team. Während Jakob die Leute zusammenrief, teilte Gabriel sie ein. Ein älterer Mann mit vor Furcht schneeweißem Gesicht meldete sich freiwillig, beim Legen der falschen Spur dabei zu sein, und während ich mich noch fragte, wie er kämpfen wollte, ob er überhaupt schnell genug laufen konnte, wurde mir plötzlich bewusst, warum es so wenig Alte gab.
Schweigen herrschte im Lager, als die Ausgewählten davongingen, in die Ungewissheit. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, dass nicht alle zurückkommen würden. Orion wechselte einen Blick mit mir, der voller Zuversicht war.
Ich konnte nicht einmal nicken, ihm kein Lächeln schenken. Er war so wunderbar, so schön mit den dunklen Haaren, dem grimmigen Blick, der das aufmunternde Lächeln Lügen strafte. Mit den anderen zog er los, um zu töten oder zu sterben.
Was würde ich tun, wenn er nicht zurückkam? Wenn er derjenige war, den die Jäger erwischten?
»Wo ist Jeska?«, fragte Ricarda, sie packte mich grob an der Schulter. »Wo ist sie?«
»Am See«, antwortete ich.
»Oh Gott.« Sie sah sich hastig um. »Räum meine Sachen ins Zelt. Benni wird still sein, sie dürfen bloß das Zelt nicht sehen!«
»Ja«, sagte ich. »Ich kümmere mich darum.«
Ricarda rannte davon, in Richtung der Uferzone, und ich bückte mich und sammelte in fliegender Eile alles zusammen und häufte Nähzeug, Lampe und Mäntel auf die Matten. Benni hatte sich wieder beruhigt. Lautlos murmelte er vor sich hin. Ich sollte wahrscheinlich bei ihm bleiben, aber ich fand es unerträglich, nicht mitzubekommen, was draußen vor sich ging. Wenn jemand kam, ein Jäger … Wie damals im Gebüsch, als ich mich mit Gabriel verkrochen hatte, in meiner ersten Nacht bei der Gruppe, hatte ich die Augen aufmachen müssen, hatte ich alles sehen müssen, statt mich abzuwenden.
Mit klopfendem Herzen stand ich vor dem Zelt, ging rückwärts ein paar Schritte fort und versuchte zu erraten, ob jemand es bemerken würde. Das Netz war gut mit Blättern bestückt. Auch von den anderen Zelten war von hier aus nichts zu erkennen. Mir fiel auf, wie still es war. Wo hatten sich bloß die anderen versteckt? Wenn ich da hinten ins Gebüsch kroch, würde ich jemand anders aufstören?
Ein Schauer lief mir über die
Weitere Kostenlose Bücher