Wild (German Edition)
wurde verbannt, und vielleicht treibt er sich immer noch irgendwo da draußen herum … aber ehrlich gesagt, das ist ziemlich unwahrscheinlich. Paulus verbietet uns, stark zu sein. Er will unsere Ohnmacht verwalten, und noch sind wir nicht genug Leute, um zu riskieren, dass die Gruppe auseinanderbricht. Es ist alles viel komplizierter, als es den Anschein hat. Bei unserem Plan wird es auf jede Sekunde ankommen. Das wird eine sehr schnelle, geheime und gefährliche Mission. Wenn ich zu lange brauche, muss Jakob ohne mich zurückfliegen.«
Meine Gedanken waren klar, schnell und herrlich. Das dumpfe Gefühl in meiner Brust war immer noch da, aber die Gedanken sagten: Vielleicht. Sei klug. Denk nach. Wenn man nichts einfach so hinnimmt, wenn man kämpft … nicht Hals über Kopf, nicht blindlings … Es gibt immer einen Weg, oder? »Ich will nicht, dass dir etwas zustößt«, sagte ich. »Und Jakob auch nicht. Aber versteh doch, das ist meine einzige Chance, Lucky zurückzubekommen!«
»Das ist also dein letztes Wort?«, fragte Gabriel. »Du machst nur mit, wenn wir deinen Freund mitnehmen?«
»Es tut mir leid«, sagte ich, »aber das ist meine Bedingung.«
Gabriel schwieg, lange. »Darüber muss ich mich erst mit den anderen beraten«, sagte er schließlich. »Ich kann dir nichts versprechen. Aber ich hoffe, du überlegst es dir noch anders und hilfst uns aus dem einzig richtigen Grund.«
»Und der wäre?«
»Dass dies auch dein Kampf ist, Pia, nicht nur unserer.«
Erst jetzt wurde mir wieder die Kühle auf meiner Haut bewusst. Der Regen, der sanft zu fallen begann. Der Mond war verschwunden, nur ein fahler Schein am Rand der großen Wolke verriet mir, wie weit er schon über den Himmel gewandert war. Seltsamerweise hatte ich, als ich an Lucky gedacht hatte, alles ausgeblendet, die Welt hatte aufgehört zu existieren. Jetzt atmete ich wieder ein und kehrte in die Realität zurück. Ich war da. Ich stand hier, in diesem finsteren Wald, der Regen durchweichte meine Bluse, der kleine Vogel im Baum protestierte verschlafen. Die Nacht war kalt, kalt und finster, und ich war verloren in ihr.
28.
Gabriel gefiel die Jacke, die Ricarda nähte. Sie war aus vielen kleinen Stoff- und Fellfetzen zusammengesetzt. Eichhörnchen. Kaninchen. Biber. Weich und warm und so scheckig, dass sie auch im Herbstwald eine gute Tarnung abgeben würde. »Sie ist fantastisch«, sagte er. »Du bist einfach die beste Näherin weit und breit.«
»Pia ist ebenfalls sehr geschickt mit den Händen«, sagte Ricarda. »Sie hat bloß keine Lust.«
Zwei Eichhörnchen tobten über uns durch die Baumwipfel. Ich fing Gabriels Blick auf. Sacht schüttelte er den Kopf.
Nein. Nein, das konnte nicht sein! Sie hatten sich gegen meine Bitte entschieden?
»Gehen wir ein Stück?«, fragte ich rasch, denn vor Ricarda wollte ich nicht mit ihm streiten.
»Einen Moment, junge Dame.« Meine Möchtegern-Mutter hielt mich auf. »Du kannst gerne gehen, Gabriel, wir sind hier fertig.«
Also ging er, und ich blieb.
Ohne Umschweife kam sie zur Sache. »Warum hast du dich mitten in der Nacht mit Gabriel getroffen? Und wohin wollt ihr jetzt? Was ist mit Orion?«
Ich lächelte nur und zuckte mit den Achseln. Sollte sie daraus machen, was sie wollte. Orions Beziehung zu Lumina war bei den Damhirschen immer noch nicht öffentlich bekannt; er hatte keine Lust, sich deswegen mit Paulus auseinanderzusetzen.
»Hör mir gut zu, Pia. Die Jäger töten, wer immer ihnen vor die Mündung gerät, aber sie haben gewisse Vorgaben, an die sie sich halten. Sie könnten uns ausrotten, aber sie halten sich ein wenig zurück. Dafür sollten wir dankbar sein.«
Meine Dankbarkeit hielt sich in Grenzen, was ich jedoch für mich behielt. »Und? Was hat das mit Gabriel zu tun?«
»Eine Zeitlang haben die Jäger sehr viele Mädchen getötet. Vielleicht war es auch immer ein und derselbe Mann … es war wirklich schlimm.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne. »Er hat viele junge Frauen vergewaltigt und umgebracht, manche davon noch halbe Kinder. Irgendwann hörte das glücklicherweise wieder auf, doch wir leiden immer noch unter den Folgen. Pia, ist dir denn nicht aufgefallen, wie wenig Mädchen es hier gibt? Du bist fast die Einzige in deinem Alter.«
Ich hatte mich in der Tat schon gewundert, warum es keine Mädchen im Lager gab, mit denen ich mich hätte anfreunden können.
»Alle Jungs, Pia, und alle jungen Männer werden auf die eine oder andere Weise hinter dir her sein. Das mag
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