Wild (German Edition)
Ministerin vielleicht, der Stimme nach zu urteilen, die voller Macht war. Mindestens eine Regierungssekretärin.
»Steh auf, Mädchen. Komm aus dem Gebüsch. Der Kleine auch.«
Also hatte sie ein Nachtsichtgerät. Sah mich. Und Benni. Aber das Gewehr sah sie vielleicht nicht, mein Knie befand sich unterhalb der Kante in der Senke.
Ich richtete mich auf. Und schoss blind in die Richtung ihrer Stimme. Mit dem Rückschlag, der mich fast umwarf, hatte ich nicht gerechnet. Aber schon fing ich mich wieder. Schoss einmal, zweimal, dreimal. Ich vergab alle sieben Schüsse, ohne dass meine Hände auch nur zitterten. Und dann stand ich da, den Achter hielt ich fest, um notfalls damit zuzuschlagen.
Aus der Dunkelheit kam nichts. Meine Ohren dröhnten. Verzweifelt versuchte ich zu lauschen. Aber da war nur das Rauschen in meinem Kopf, kein anderes Geräusch, kein Stöhnen einer Verletzten, kein Lachen darüber, dass ich danebengetroffen hatte. Vielleicht stand sie genau vor mir und beobachtete mich und lachte sich halbtot darüber, wie ich versuchte zu enträtseln, ob ich es geschafft hatte oder nicht.
Ich wartete.
Vielleicht wartete sie auch.
Meine klaren Gedanken versuchten, ein letztes Mal Einfluss auf mich zu nehmen.
Geh hin, befahlen sie. Sieh nach. Wenn sie tot ist, schnapp dir ihr Gewehr. Dann hast du wieder eine Waffe.
Aber ich konnte nicht. Ich rührte mich nicht von der Stelle, bis meine Beine so stark wackelten, dass ich mich hinsetzen musste, um nicht umzufallen. Zitternd legte ich den nutzlosen Achter zur Seite und nahm Benni in die Arme. Er hatte nicht geschrien, nicht einmal, als die Schüsse fielen.
»Das war nichts Schlimmes«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Es hat sich so angehört, klar, aber in Wirklichkeit waren das Kastanien, die im Feuer geplatzt sind. Riesenkastanien, was? Die werden bestimmt super schmecken.«
Er nickte, das Gesicht in meiner Armbeuge vergraben. Gemeinsam kuschelten wir uns unter den Strauch, bis uns die Nacht und die Träume und die Nachbeben der Angst verschluckten.
Ich erwachte von den Stimmen und der Kälte. Die Stimmen schrien und riefen durcheinander. Die Kälte war leise, subtil, sie fraß sich durch die Kleider und berührte meine Haut mit Frostfingern. Das Erste, woran ich dachte, als ich zitternd die Augen aufschlug, war der Mantel, den Ricarda mir versprochen hatte. Das einzig Warme war das Kind in meinen Armen, das dicht an mich gedrängt schlief.
Meine Hände waren dunkel und klebrig. Ich wollte mich aufrichten, aber Benni war zu schwer, es war mir unmöglich, mit ihm zusammen aufzustehen. Erst musste ich ihn vorsichtig von mir herunterrollen, dann schaffte ich es irgendwie, mich aufzurappeln und unter dem Gebüsch hervorzukriechen. Ich war schon halb draußen, da fiel mir ein, dass ich möglicherweise einen Fehler machte. Dass vielleicht die Jäger noch hier waren, und vielleicht waren alle, die ich kannte, tot, und ich würde den Feinden direkt in die Arme laufen.
Vorsichtig torkelte ich zum nächsten Baumstamm und hielt mich daran fest. Meine Beine ließen sich kaum bewegen. Irgendwann während der vergangenen Nacht musste ich mir den Kopf angeschlagen haben, denn ich fühlte eine gewaltige Beule an meiner Stirn, nur bei der Berührung mit den Fingerspitzen sah ich Sterne.
Die Stimmen verursachten mir Kopfschmerzen.
Ich stolperte weiter.
Da waren Menschen. Keine Jäger, nein, richtige Menschen. Sie waren dabei, die Zelte abzubauen, die Netze abzunehmen. Stimmt, heute war der Tag, an dem wir weiterziehen wollten. Da war auch unser Zelt. Jeska und Ricarda legten es gerade zusammen, da standen schon die Körbe mit unseren Sachen, die groben Säcke mit unseren Habseligkeiten, die langen Stangen, mit denen wir alles transportieren würden.
»Da ist Pia«, sagte jemand, und Jeska ließ alles fallen und rannte auf mich zu.
»Pia! Du bist da! Oh Pia, ich bin so froh!«, jubelte sie. Sie ignorierte meine blutigen Hände, sie ignorierte, was auch immer mit mir und meinem schmerzenden Körper nicht stimmte. Sie fragte nicht einmal, ob ich verletzt war.
Ich gab ihr recht; das war im Moment ziemlich egal.
Auch Ricarda drehte sich nach mir um. Ihr Gesicht war anders. Weiß. Aus irgendeinem Grund hatte sie über Nacht ein neues Gesicht bekommen.
Ohne ein Wort, ohne ein Lächeln kam sie auf mich zu. Sie streckte nicht einmal die Hände nach mir aus. Jeska zog mich zu ihr hin, Jeska strahlte, aber Ricarda stand bloß da wie ein Geist.
»Benni war nicht im Zelt«,
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