Wild (German Edition)
darum gefleht hatte, nichts mehr zu empfinden, war vergessen.
Er nahm mir meine Gefühle.
Drohungen waren nicht nötig. Sobald ich in meiner Wolke dahinschwebte, würde ich ihm alles erzählen, was er wissen wollte. Dass sie zum Weißen Bach unterwegs waren, wo immer das sein mochte. Warum hatte Jeska es mir bloß gesagt? Denn bald würde es mich nicht länger kümmern, was mit Orion und meinen Freunden von den Damhirschen geschehen würde.
Was um alles in der Welt hatte mich geritten, in diesen verdammten Hubschrauber zu steigen? Ich würde alle verraten. Orion, an dem mein Herz hing. Gabriel. Alfred. Ricarda und Jeska und Benni. Paulus und Helm und Merton und Lumina.
Alle.
Und das Schlimmste war, es würde mir völlig gleichgültig sein.
31.
»Ich will nach Hause«, sagte ich. »Sie können sich nicht vorstellen, wie müde ich bin.«
Ich war schon im Auto eingeschlafen, und obwohl ich mich krampfhaft darum bemühte, die Augen offenzuhalten, war mein Körper stärker als ich. Dabei wollte ich jede Minute, jede Sekunde, die ich noch ich selbst war, bewusst erleben. Ich hatte mir gewünscht, meine Eltern zu sehen. Wenigstens einmal, bevor sie mich wieder in meine Wolke tauchten. Mit meinem Vater zu sprechen, in Erfahrung zu bringen, was er wusste, was er fühlte.
Doch die Beamten – Happiness Zuckermann, die alles andere als fröhlich aussah, und der graue Mann, der sich nicht vorgestellt hatte, den sie jedoch mit Anders anredete – fuhren mich direkt zur Schule.
»Ich kann doch jetzt nicht am Unterricht teilnehmen!«, protestierte ich. Höchstwahrscheinlich würde ich vor Erschöpfung vom Stuhl fallen. Anderseits war die Vorstellung von einem Tisch, auf dem ich die Arme abstützen und den Kopf drauf betten konnte, überaus verlockend.
Und ich würde Lucky wiedersehen.
Wie müde ich war, sah man schon daran, dass mir das erst jetzt einfiel. Lucky!
Wenn er überhaupt hier war. Hatten die Regs ihn und Moon einfach wieder zurück in ihr altes Leben geschickt? Oder vegetierten sie hinter Eisentüren vor sich hin? Stiller hatte sich geweigert, mir irgendetwas darüber zu erzählen.
In der Schule herrschte der übliche Lärm. Es war gerade Pause, die Schüler strömten die Treppen hinunter und füllten die Flure. Happiness und Anders flankierten mich wie Leibwächter, und mir entgingen die neugierigen Blicke der Schüler nicht. Graugewandete Regierungsbeamte waren eine interessante Abwechslung.
»Da geht es zu unserer Klasse«, sagte ich und steuerte auf die große Treppe in der Eingangshalle zu, doch Happiness packte mich am Arm und dirigierte mich in die andere Richtung.
Da wusste ich, warum ich hier war. An dem Ort, an dem Minderjährige ihre Glücksgabe bekamen.
»Nein«, sagte ich. »Nein, oh bitte!« Ich bohrte die Füße in den Fußboden, aber es hatte keinen Zweck. Anders fasste nach meinem anderen Arm, und gemeinsam schleiften sie mich weiter. »Bitte! Ich möchte wenigstens meine Freunde vorher sehen. Lassen Sie mich einmal in meine Klasse! Und zu meinen Eltern. Geben Sie mir eine Stunde!«
»Hör auf zu zappeln«, sagte Happiness Zuckermann schroff.
Lass den Glücksstrom nie abreißen, stand groß an der Wand. Die übliche Traube an Schülern, die auf ihre Welle warteten, hatte sich vor der Praxis von Dr. Händel versammelt. Meine Begleiter marschierten ungerührt an der Schlange vorbei.
Frau Zuckermann öffnete die Tür, ohne zu klopfen. Wahrscheinlich legten die Regs es gerne darauf an, jemanden bei was auch immer zu ertappen.
Felix grüßte uns lächelnd. Dr. Händel war nicht da, und stattdessen saß ein Unbekannter auf seinem Drehstuhl. Er schob den Ärmel des Jungen, den er gerade behandelte, wieder über die Einstichstelle, dann erst wandte er sich den ungebetenen Besuchern zu.
»Oh, Sie sind’s. Es ist alles bereit.«
»Was ist mit Dr. Händel passiert?«, wollte ich wissen.
»Mein Vorgänger wurde versetzt«, erklärte der neue Arzt. Er war jünger, eifrig, und machte den Eindruck von Kompetenz und Effizienz. »Nach diversen Vorkommnissen, an denen du, junge Dame, nicht ganz unschuldig bist, wie ich hörte. Ich bin Dr. Aristoteles. Setz dich. Peas Friedrichs, ja?«
Happiness drückte mich auf die Patientenliege und setzte sich daneben. Wahrscheinlich befürchtete sie, ich könnte aufspringen und abhauen, direkt vor ihrer Nase. Aber wohin sollte ich fliehen? Selbst wenn es mir gelang, aus diesem Zimmer zu entkommen und durch ein Fenster zu springen und zu rennen, zu rennen,
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