Wild (German Edition)
wie nie zuvor?
Ich konnte immer noch fühlen.
Traurigkeit, weil meine Mutter sich so distanziert verhielt. Weil es sie nicht besonders interessierte, ob ich lebte oder nicht. Sie nahm alles hin, wie es kam. Und mein Vater musterte mich … froh, ja, aber auch misstrauisch.
»Wo bist du gewesen?«, fragte er. »Ich war am Treffpunkt, aber es ist niemand gekommen.«
Die Beamten hatten mir eingeschärft, nichts über die Wildnis zu erzählen. Bei aller Fröhlichkeit und Gleichgültigkeit machte der Gedanke an Krankheit doch alle nervös, und sobald auch nur der Verdacht aufkäme, wo ich wirklich gewesen war, zwischen dreckstarrenden Menschen und unbehandelten Pflanzen, würde man mich für eine ansteckende Plage halten.
Es gab eine Grenze für die Lustigkeit in Neustadt.
»Ich war in Glücksstadt.« Dabei hätte ich ihm so gerne die Wahrheit erzählt. Ihn gefragt, was er darüber dachte. Ihn gebeten, mir Absolution zu erteilen für das, was ich getan hatte. Doch ich wagte es nicht, denn auch er zeigte mir nicht, ob und was er fühlte. Er nahm mich nicht in den Arm.
Ich musste vorsichtig sein. »Wir hatten eine wirklich schöne Zeit. Ich glaube, die Unterlagen sind irgendwie durcheinandergeraten, deshalb wurde ich gar nicht wieder abgeholt, und hier dachten sie offenbar, ich hätte einen Unfall gehabt.«
»Was war das für ein Anruf?«, hakte er nach.
Dafür hatte ich mir keine Geschichte zurechtgelegt, und auch die Beamten, die nichts davon wussten, hatten mich nicht mit vorgekauten Lügen versorgt.
»Ich war in Schwierigkeiten.« Ich musste auf die Schnelle improvisieren, doch meine klaren Gedanken ließen mich nicht im Stich. Sie waren wieder da. Sie waren strahlendweiß und kalt und schneidend, wie medizinische Instrumente. »Da waren so ein paar Typen … ich hab mir Geld geliehen und Schulden gemacht, die ich nicht zurückzahlen konnte.«
»Wofür?«
»Siehst du, was ich anhabe? Das ist alles von Kids-for-Freedom. Ich wollte Moon beeindrucken, wenn ich zurückkomme.«
Er nickte; das schien also glaubhaft.
»Sie wollten mit Morbus Fünf angeben, glaube ich. Leute erschrecken oder so.« Nein, ich würde nichts über Alfred sagen. Über Gabriel. Über einen Plan, der die Jäger noch erbitterter morden lassen würde.
»Damit spielt man nicht«, sagte mein Vater ernst.
Ich lachte ein bisschen, so wie Moon gelacht hätte. So zu tun, als stünde ich irgendwie neben mir, war nicht schwer.
»Krankheiten sind keine Spielsachen«, murmelte er, immer noch in Gedanken. Als wenn ich ihn nicht hören könnte. »Ich weiß wirklich nicht, was ich getan hätte. Hoch ansteckend. M Fünf! In den falschen Händen eine Waffe.«
Mein Verstand sagte mir, dass ich diese Gelegenheit unbedingt nutzen sollte. »Eine Waffe? Klingt lustig«, sagte ich. »Der neue Mensch benutzt doch keine Waffen mehr.« Ich grinste dümmlich. Wie hätte ich mich früher verhalten, in meiner Wolke? Wie musste ich mich benehmen, um keinen Verdacht zu erregen? Um seinen Argwohn zu zerstreuen, dass jemand einen Krieg plante, gegen die Jäger?
Vielleicht hatte er vergessen, wie ich mich sonst immer verhalten hatte. Vielleicht war ich unsichtbar gewesen in meiner grauen Wolke, sogar für ihn.
Er seufzte, rieb sich die Augen, starrte an die Wand. »Ich hätte ihnen die Probe nicht gegeben«, sagte er. »Sondern die Wachen gerufen und sie festnehmen lassen, bevor sie dumm genug sind, sich selbst zu schaden. Manche Halbstarken kennen keine Grenzen, Peas. Sie glauben, sie seien unsterblich. Von solchen Typen solltest du dich fernhalten. Am Ende hätten sie das Morbus Fünf ausprobiert, einfach um festzustellen, wie es ist, krank zu sein, und wir hätten sie in die Wildnis verbannen müssen.«
»So leichtsinnig wäre doch niemand«, sagte ich, obwohl mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.
»Aber jetzt genug davon. Es ist ja alles gut gegangen, denn hier bist du, und die Jugendlichen, die so einen schlechten Einfluss auf dich ausgeübt haben, sind in Glücksstadt, nicht wahr?«
Warum hatte ich mir eigentlich nie zuvor Gedanken über meinen Vater gemacht, woran er arbeitete und warum? Über den Zweck des Bio-Instituts? Wer war er? Was fühlte er, wenn er nach Hause kam und seine Familie ihn empfing – eine Frau im Glücksrausch und eine benebelte Tochter, die überall anstieß?
Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte kaum schlucken. Etwas stimmte hier nicht. Warum spürte ich das? Woher kamen die Angst und die brennende Erwartung und
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