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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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immer weiter … wohin dann?
    Es gab keinen Ausweg.
    Als ich die kühle Spritze an meiner Haut spürte, biss ich die Zähne zusammen, um mich gegen den Schmerz zu wappnen. Trotzdem liefen mir die Tränen die Wange hinunter. Vielleicht die letzten Tränen meines Lebens.
    Die Beamten brachten mich bis vor die Haustür. Meine Mutter öffnete, und der überwältigende Geruch von Farbe und Lösungsmitteln stieg mir in die Nase, gemischt mit einem undefinierbaren Aroma. Apfel? Aber mittlerweile wusste ich, wie echte Äpfel rochen. Ich hatte den Geschmack noch auf der Zunge. Kleine, wilde Äpfel, so sauer, dass die Zähne davon stumpf wurden, und doch so saftig und aromatisch, dass man versucht war, zu viele davon zu essen. Jeska hatte mir den knorrigen Baum gezeigt, in dem sie hingen, und wir hatten den Frauen, die die Gänse zubereiteten, einen Korb voll davon mitgebracht.
    »Pia?« Meine Mutter blinzelte überrascht. »Wo kommst du denn auf einmal her?«
    Sie sah aus wie immer. Ein paar gelbe Farbtupfer auf der Stirn, auf ihrem Kopftuch, das sie immer zum Malen trug.
    »Mama«, flüsterte ich. Ich wollte in ihrer Umarmung versinken, wünschte mir, dass sie mich tröstete.
    »Guten Tag, Frau Friedrichs«, sagte Anders mit einem kühlen Lächeln. »Ihre Tochter ist von ihrem Schüleraustausch mit Glücksstadt zurück.«
    Meine Mutter war immer noch etwas verwirrt, doch sie nickte strahlend. »Ach, dann bist du ja gar nicht tot. Aber solltest du um diese Uhrzeit nicht in der Schule sein, Pia?«
    »Heute darf sie ausnahmsweise zu Hause bleiben und sich ausschlafen«, erklärte Happiness. Sie gab mir einen kleinen Schubs, sodass ich über die Schwelle stolperte. »Tja, dann. Man sieht sich.«
    Ich sagte nicht Auf Wiedersehen. Sie würden wiederkommen, das war mir durchaus klar. Und mich befragen. Und ich würde ihnen alles sagen, was ich wusste.
    »Wir hatten eine Einäscherungsfeier für dich«, sagte meine Mutter, sobald sich die Tür hinter den Beamten geschlossen hatte. »Das muss ein Irrtum gewesen sein, denn du lebst, wie man sieht. Was für eine nette Überraschung.«
    Sie ging zu ihren Töpfen, ihren Leinwänden zurück, aber ich hielt sie auf. Ich schloss sie in die Arme, ich atmete den Farbgeruch und das künstliche Aroma der Äpfel tief ein.
    »Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht tot. Ich bin wieder da. Oh Mama, es tut mir so leid.«
    Sie machte sich wieder frei. »Du, ich muss arbeiten. Geh in dein Zimmer, alles ist schön aufgeräumt. Wenn du Hunger hast, der Kühlschrank ist voll.«
    »Ja«, sagte ich leise, »danke. Ich komm schon zurecht.«
    Ich sah ihr eine Weile zu, wie sie mit dem Pinsel ein Muster vollendete.
    Wunderte mich über meine Traurigkeit.
    Wieder kamen neue Tränen.
    Ich brauchte nichts zu essen. Im Wald hatte ich nicht genug bekommen können, doch jetzt hatte ich keinen Hunger mehr. Auf Zehenspitzen erkundete ich die Wohnung, mein Herz flatterte. Wie fremd alles war, wie vertraut in dieser Fremdheit. Kühl schien es mir, trotz der bunten Farben. Mein schönes Zimmer, das ich geliebt hatte, fühlte sich nicht an wie ein Zuhause, sondern leer und genauso künstlich wie der Apfelduft in der ganzen Wohnung.
    Ich rollte mich unter der Decke zusammen und floh in den Schlaf.

    »Hallo, Kleines.«
    Mein Vater saß an meinem Bett. Er berührte meine Stirn, strich mir über den Kopf.
    »Deine Haare sind gewachsen.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin auch gewachsen.«
    Ich setzte mich auf. Am liebsten wäre ich auf seinen Schoß gekrochen, hätte seine Umarmung gespürt, doch das hatten wir nie getan, und ich brachte es nicht fertig, jetzt damit anzufangen.
    »Sie haben uns gesagt, du seist tot. Wir haben eine Trauerfeier abgehalten in der Halle des Glücks. Du lagst im Sarg, ich habe dich mit eigenen Augen gesehen.«
    »Es ist bloß ein Hologramm. So wie bei Phil. Der schien auch im Sarg zu liegen, und dann war es bloß Luther.«
    »Wie bitte? Wovon sprichst du?«
    »Luther lag im Sarg, bei Phils Feier«, wiederholte ich. »Dein Kollege. Der an Morbus Fünf gestorben ist.«
    »Dein Anruf …« Er zögerte.
    Ich würde ihm alles sagen, wenn er fragte. Oder? Besonders geschwätzig fühlte ich mich allerdings nicht. Eher vorsichtig. Es war seltsam, zu Hause zu sein, zu erwarten, dass alles war wie immer, und festzustellen, dass es nie wieder so sein konnte wie vorher. Eine Fremde zu sein.
    Was war eigentlich mit mir los? Wo war meine graue Wolke? Wieso waren die Gedanken noch da, herrschte in mir eine Klarheit

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