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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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das Heimweh? Wie seltsam, von allen Gefühlen ausgerechnet Heimweh, hier zu Hause.
    »Ich möchte Moon anrufen«, sagte ich, und auch diesem Wiedersehen sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Warum? Wie konnte alles, woran ich dachte, einen Nerv berühren, der mir Schmerzen verursachte? »Aber ich hab keinen Tom mehr.«
    Mein Vater seufzte schwer. Unvorhergesehene Anschaffungen versetzten ihn nie in Euphorie.
    Es war sehr früh am Morgen; ich hatte den Tag und die halbe Nacht verschlafen. Mein Vater trank seinen Ersatzkaffee, sein Gesicht war wie ein Kunstwerk, das er vor langer Zeit modelliert hatte und das sich nicht mehr ändern ließ. Da begriff ich, dass es mehr als eine Art gab, ohne Gefühle zu leben.
    Meine klaren Gedanken sagten: Sieh hin, so ist es, das ist Neustadt. Sie lügen, alle. Jeder hat Gefühle. Wir tun nur so, als hätten wir sie nicht.
    Mein Herz nahm das alles nicht so gelassen. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen. Es war sehr schwer, sie nicht zu weinen.
    Meine Mutter überlegte laut, ob sie mir eine Entschuldigung schreiben sollte, weil ich keine Hausaufgaben hatte. Sie kam mir so naiv und verwirrt vor. Sich Sorgen wegen Hausaufgaben zu machen, wenn die tot geglaubte Tochter gerade aufgetaucht war – war das nicht verrückt? Ich versuchte, es lustig zu finden, während der Schmerz über ihre Gleichgültigkeit sich glühend auf mein Herz zubewegte wie ein tödliches Projektil aus der Waffe eines Jägers.
    Da ich keinen Tom hatte, konnte ich niemanden vorwarnen. Die Schüler im Bus interessierten sich nicht für mich; vielleicht hatten sie mitbekommen, dass ich den Sommer über verschwunden war, aber dann hatten sie es wohl schon längst vergessen. Gestern war ich in der Schule gewesen – ob sich das herumgesprochen hatte?
    Nein, hatte es nicht. Wie Moon mich anstarrte, als ich ins Klassenzimmer trat und meinen alten Platz ansteuerte, sprach Bände.
    »Pi? Pi, du bist wieder da!« Sie sprang über Tische und Stühle und drückte mich an sich. Lachte.
    Und sie war schön, so wunderschön, wie ich es in Erinnerung hatte. Moon, strahlend, Moon, in die jeder Junge verliebt war, soweit jemand aus Neustadt überhaupt verliebt sein konnte. Sie war schöner als Savannah mit den kalten Jägerinnenaugen, sie war ein Mädchen, das leuchtete. Ganz anders als Savannah, die aus derselben Schublade stammte. Wie hatte ich die beiden auch nur einen einzigen Augenblick lang verwechseln können?
    »Wir haben dich vermisst«, rief Moon.
    Wie viele es wohl noch von ihnen gab? Ein teures Modell, das sich nicht viele leisten konnten.
    »Das bezweifle ich«, sagte ich freundlich. Und verstummte abrupt, denn vor mir stand derjenige, den ich am allermeisten vermisst hatte.
    Lucky.

32.
    »Hi.« Da war er und grinste. Seine hellbraunen Augen verschwanden fast unter den langen Ponyhaaren. Sein Gesicht war anders, als ich es in Erinnerung hatte, irgendwie kam er mir größer vor, erwachsener. Ich suchte in seinem Blick nach der Vertrautheit, nach dem Verstehen zwischen uns. Nach jenem Moment auf dem Dach. Er lächelte breit.
    War es da? War es nicht da?
    »Pi, schön, dass du wieder da bist.« Dann küsste er mich auf die Wange und flüsterte: »Na, meine Süße?« in mein Ohr.
    Es war herrlich, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas daran falsch war.
    Mein neues Outfit versetzte sogar die himmlisch schöne Peace in Ekstase. »Oh, was hast du da bloß an? Das ist der absolute Wahnsinn! Oh Pi, die Schuhe! Schau dir bloß deine Schuhe an!«
    Auch die anderen aus meiner Klasse reagierten heftiger als meine eigene Mutter. Charity gluckste und tänzelte um mich herum. »Unser lieber Tollpatsch ist noch am Leben! Wieso trägst du eine Hose von Kids-for-freedom?«
    Jupiter lächelte selig; er schien mich wirklich zu mögen. Merkur hackte sich in den Lehrercomputer ein und schrieb »Sie ist wieder da« an die Tafel.
    »Was ist denn hier los?« Mit schwungvollen Schritten betrat Gandhi den Raum. »Alle auf ihre Plätze. Peas Friedrichs, wir freuen uns über deine Auferstehung. Wenn du dich bitte trotzdem setzen könntest, damit wir mit dem Unterricht beginnen können?«
    »Ja«, sagte ich, »natürlich.«
    Lucky saß weiter vorne, zwischen den anderen Jungs. Ich wartete darauf, dass er sich zu mir umdrehte. Meine Blicke setzten seinen Rücken in Brand, verfingen sich in seinen braunen Haaren, aber er merkte nichts davon.
    »Hast du deinen Tom vergessen?«, fragte Moon. »Macht nichts, mein Schusselchen.

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