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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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und dabei hast du überhaupt nichts getan.
    Mich wunderte, woher diese Gedanken kamen, denn dieses Mädchen sah so klein und verwundbar aus.
    »Aber …«
    »Phil liegt im Koma«, presste sie heraus. »Er hat sich das Rückgrat gebrochen. Selbst wenn er aufwachen würde, wäre er gelähmt. Mit seinem Gehirn stimmt etwas nicht. Er wäre gelähmt und behindert. Und meine Eltern? Sie sagen nur die ganze Zeit: Ach, das wird schon wieder.«
    Diesmal erkannte ich den Zorn ganz deutlich, einen Zorn wie eine blauweiße Flamme. »Ach, das wird schon wieder! Und wenn nicht, hat er ja nicht lange leiden müssen. Er hat keine Schmerzen, er spürt nichts. Also alles in bester Ordnung, nicht?« Star richtete ihre stahlblauen Augen auf mich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie mit geballten Fäusten auf mich losgegangen wäre. »Alles in Ordnung«, wiederholte sie.
    Die Schulglocke läutete. Mir fiel erst jetzt auf, dass wir die Letzten auf dem Vorplatz waren.
    »Komm.« Ich legte ihr den Arm um die Schultern. »Gehen wir rein, bevor sich jemand wundert.«
    »Dann soll ich tun, als wenn nichts wäre?« Sie blieb stehen und der Zorn glänzte in ihren Augen. »So wie gestern? Einfach stillhalten? Und es gibt nichts, was das irgendwie leichter machen würde?«
    »Ja«, sagte ich, denn etwas Besseres konnte ich ihr nicht anbieten. »Und nein, es gibt nichts.«
    Ihre harte Fassade zerbrach. »Ich halte das nicht durch.«
    »Du musst. Es geht nicht nur um dich.«
    »Ich hasse dich«, wisperte sie, und nachdem sie das gesagt hatte, schien sie sich wenigstens etwas besser zu fühlen.
    Mit ganzem Herzen wünschte ich mich in mein Klassenzimmer. Zu meinen Freunden.
    »Eine Woche«, sagte ich. Die klaren Gedanken übernahmen wieder das Kommando. »Wir müssen eine Woche durchhalten. Weniger, falls noch andere betroffen sind und sich auffällig benehmen. Falls es rauskommt. Aber wenn, dann sind wir nicht schuld daran, kapiert? Ich dachte, du hättest das verstanden.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, murmelte sie.
    »Vielleicht …« Ein völlig verrückter Gedanke tauchte von irgendwoher auf. Alles andere als vernünftig, eher aus Träumen und Wolken geboren. »Wir könnten Phil besuchen. Würde dir das helfen?«
    »Das würdest du tun?« Sie glaubte mir nicht, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich wusste ja selbst nicht, wie ich es anstellen sollte.
    »Ich spreche mit Lucky darüber, ja? Wir besuchen ihn im Genesungshaus, und bis dahin bist du brav und benimmst dich normal, klar?«
    Sie schluckte, aber ich durfte kein Mitleid haben. Sie musste den Schmerz aushalten, so wie ich.
    Ach, flüsterte die Stimme in mir, du hast auch einen Schmerz, so wie sie? Seit wann? Was hast du denn verloren außer deiner Tollpatschigkeit?
    »Wo ist deine Klasse?« Ich schob sie durch den stillen Flur. »Du bist in der sechsten?«
    »In der achten. Ich bin vierzehn.«
    Sie war so klein und zart, dass ich mich glatt um zwei Jahre verschätzt hatte. »Hier.«
    »Was soll ich sagen?« Hilfesuchend wandte sie mir ihr Gesicht zu. Von Feindseligkeit keine Spur. Nur diese unheimliche Gespensterblässe, nur dieses Wissen in ihren Augen: Phil wird sterben.
    »Du machst das schon. Sag, du hättest deine Tasche liegen lassen und musstest noch mal umkehren. Wenn du einen Verweis erhältst, entschuldigst du dich und gehst an deinen Platz. Erzähl keinem was von Phil, außer sie fragen dich. Und dann sagst du dasselbe, was deine Eltern gesagt haben: dass es schon gut ausgehen wird.«
    Sie nickte. Ich klopfte für sie und schob sie durch die Tür.
    Jetzt kam ich natürlich selbst zu spät. Ich platzte mitten in die Stunde, stammelte etwas davon, ich sei die Treppe runtergefallen – das glaubte man mir immer –, und ließ mich auf meinen Platz sinken. Schaltete meinen Bildschirm ein und tat, als würde ich mitlesen. Meine Gedanken rasten und ließen sich kaum in Bahnen lenken. Sie waren bei Phil. Vor meinen inneren Augen lag er immer noch neben dem Gerüst, zwischen Maurerkübeln und Brettern. Ihn auf einem Genesungshausbett zu sehen, einen weißen Verband um den Kopf, war mir irgendwie nicht möglich. Ich schaffte es zwar, mir einen Patienten vorzustellen, so wie sie in den Filmen immer aussahen, aber er hatte nicht Phils Gesicht. Wieder war das Leben wie ein unfertiges Puzzle in einem Karton – nichts passte zusammen. Ich bekam Phils kleines Gesicht nicht in mein Bild des eingewickelten Patienten.
    »Hm?« Die Lehrer waren es gewöhnt, dass sie mich

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