Wild (German Edition)
uns herüber. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis jemand Star zum Arzt schickte.
»Wirklich?« Sie schluckte.
»Ja«, sagte ich und dachte: Dafür wird Lucky mich umbringen. Es war durchaus verheißungsvoll, ihn sich wütend vorzustellen, denn solange wir uns auch schon kannten – jedes wilde Gefühl würde etwas völlig Neues sein, für jeden von uns. In dieser einen Woche, die wir hatten, wollte ich so viel wie möglich erleben. Ich wollte atmen und fühlen, und ja, Lucky zum Ausrasten zu bringen, würde bestimmt einer der Höhepunkte sein.
Star versuchte in meinem Gesicht abzulesen, ob ich es ernst meinte, dann verwandelte sie sich von einem Häufchen Elend in eine beherrschte junge Dame, die ihre Gefühle tief in sich einschloss. Es war erstaunlich. Eben noch hatte ich geglaubt, der nächste Lehrer würde sie zu Dr. Händel schleppen, jetzt hatte ich eine Star vor mir, die aussah, als hätte sie nie in ihrem Leben geweint.
»Heute Abend.« Sie schien darauf zu lauern, dass ich einen Rückzieher machte.
Ich hatte nicht die Absicht. »Ich hole dich ab.«
»Okay. Bis dann.«
Sie tänzelte über den Hof auf eine Gruppe schwatzender Mädchen zu, und nur der Blick, den sie einmal kurz über die Schulter warf, teilte mir mit, dass sie schauspielerte. Und dass sie, falls ich sie angelogen hatte, zu einer gefährlichen Bestie mutieren würde.
Ha, mein lieber Lucky. Ich freue mich schon auf dein Gesicht.
8.
Der nächste war Orion. Ich wusste, dass ich ihn todsicher in der Nähe der Sporthalle treffen würde, und begab mich daher unverzüglich dorthin.
»Pi! So warte doch!«
Moon schob sich durch die Menge auf dem Schulhof. Mit wehendem Haar und wippendem Busen stürmte sie hinter mir her. Wie ich mich freute, sie zu sehen! Alles hatte sich verändert, meine Welt stand Kopf, aber Moon war immer noch dieselbe. Sie strahlte mich an, als sie mich erreicht hatte. »Ich hab dich überall gesucht, wo warst du denn? Da hinten haben sie einen Stand mit echter Zuckerwatte aufgebaut, als Vorgeschmack auf die Joy-Spiele!«
»Genau das hatte ich vor«, sagte ich. »Mir ein Spiel ansehen.«
»Ein Spiel?« Moon liebte Sport, solange sie nicht selbst dabei schwitzen musste. »Jetzt? Mitten am Schultag?«
Seit wann lügt der neue Mensch? Eigentlich kannte ich Lügen nur aus dem Geschichtsunterricht. Moons kleine Unwahrheiten waren nie gegen mich gerichtet, deshalb fühlte ich mich unbehaglich, sie so abzuspeisen. Es tat regelrecht weh, sie nicht an meinen Gedanken teilhaben zu lassen.
Siehst du, wohin das führt?, sagte die klare Stimme der Vernunft in mir. Wilde Gefühle sind der Weg in den Abgrund. Du fällst aus dem Glücksstrom heraus, direkt in die sonnenlose Finsternis.
»Na ja, es ist eigentlich kein Spiel, bloß Training.« Damit konnte ich nicht falsch liegen; Sportler trainierten doch so gut wie immer. »Ich wollte zugucken.«
»Aber die Pause ist gleich um. Und du hast schon einen Verweis.«
Das stimmte, und deshalb hatte ich jetzt wirklich keine Zeit zu verlieren.
»Komm«, sagte ich und hastete vorwärts. Moon hatte zum ersten Mal Schwierigkeiten, an meiner Seite zu bleiben.
»Was ist denn mit dir los?«, wunderte sie sich. »Bist du seit neuestem in einen Joyspieler verknallt? He, sag nichts, lass mich raten.« Mit einer anmutigen Geste strich sie sich das Haar aus der Stirn. Zu dieser Grazie konnte einem auch keine Schönheits-OP verhelfen. Obwohl ich, Frühlingswetter noch mal, an anderes zu denken hatte, traf es mich wie ein Blitz: Ich war ein hoffnungsvoller Fall. Keine Operation, keine Medikamente, keine Welle und auch nicht das Versagen des Glücksstroms – nichts konnte aus mir das machen, was Moon war.
Der Schmerz kam völlig unvorbereitet über mich. Dabei hatte ich das schon immer gewusst, nicht erst seit ich damit leben musste, dass meine beste Freundin einen Partner bekommen hatte und ich nicht. Dass andere Mädchen einen Bruder besaßen und ich nicht. Dass sie in den Spiegel schauten und sich angrinsten und die bewundernden Blicke der Jungs auf sich spürten und ich nicht.
Nicht einmal jetzt, obwohl ich zum ersten Mal seit Jahren ohne Schwierigkeiten geradeaus gehen konnte, war ich wie sie.
»Es ist … Zeus«, riet sie. »Stimmt’s? Der ist so süß, wieso bin ich nicht früher draufgekommen? Oh Pi, ich freu mich so für dich!«
Vor uns ragte der Sportkomplex auf – das kleine Stadion, dessen Zuschauerränge nahtlos ins Dach der Turnhalle übergingen. Ich sprang die Stufen hoch
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