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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Neustadt an Kraftausdrücken nicht zu bieten.
    Mein Vater runzelte ein paar Sekunden lang die Stirn, dann verschwand er im Badezimmer und kam mit einer kleinen Tube und einem Kasten Verbandszeug zurück. Normalerweise versorgte er meine Blessuren damit, wenn ich mal wieder die Treppe heruntergefallen oder gegen einen Türrahmen gerannt war. Diesmal kam der Super-Athlet in den Genuss unseres Notfallsets. Mein Vater strich Salbe auf die gerötete Haut und umwickelte das Fußgelenk mit einem endlos langen Verband. Unmöglich, dass Orion jetzt noch Schuhe tragen konnte.
    »Kühlen Sie das.« Auch Dr. Friedrichs, mein werter Herr Papa, klang heute etwas unterkühlt. Der Glücksstrom hätte jeden Ärger dämpfen müssen, und als mein Vater wenig später wieder seinen Kaffee schlürfte, den er grundsätzlich eine Spur zu heiß trank, schien alles in Ordnung. Doch mein Unbehagen blieb.
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Komisch, aber dass meine Welle ausgeblieben war, hatte mir auch ein Gespür für die Gefühle anderer geschenkt. Mir war fast, als könnte ich sie riechen – Angst, Sorge, Zorn. Etwas Dunkles schwelte in ihm.
    Etwas, das nichts mit Orion zu tun hatte.
    »Papa?«, sagte ich leise. »Geht es dir gut?«
    Erst antwortete er nicht. Nippte an seiner Tasse. Dann sagte er unvermittelt: »Im Labor gab es gestern einen Zwischenfall.«
    »Was ist denn passiert?«
    Der Schaum auf seiner Oberlippe sah aus wie ein lustiges Bärtchen. So hätte er sich sonst nie einem Gast gegenüber präsentiert, doch er schien es nicht einmal zu merken.
    »Wir stellen doch die Präparate her, die in Schulen benutzt werden«, erklärte er. »Ungefährliche Viren zu Demonstrationszwecken … Nun, da ist einem meiner Kollegen ein Malheur passiert, und ein Glas mit aktiven Viren ist zerbrochen.«
    Meine Mutter strich sich Margarine auf ihr Croissant, so sorgfältig, als würde sie ein Bild malen. »Aber Morbus Fünf Alpha ist doch ungefährlich, solange man nicht direkt in Kontakt damit gerät.«
    »Sicherlich. Aber als Luther die Scherben aufgesammelt hat, hat er sich geschnitten.« Auch in seiner Stimme – Dunkelheit. Etwas Bitteres.
    Oder war es überall? War ich bisher zu blind gewesen, um es zu bemerken? Zu taub, um den stockenden Atem der Welt um mich her zu hören? Selbst in Neustadt, an diesem Ort des heiteren Glücks, wohnte der Tod. Sie hatten alles Kranke verbannt, aber den Tod konnte man nicht so einfach vors Tor setzen.
    »Luther?«, rief ich. Er hatte schon öfters hier mit uns am Tisch gesessen, ein lustiger Typ mit einem Kranz braungefärbter Haare um seine spiegelnde Glatze. »Nicht Luther!«
    »Jetzt gibt es natürlich kein Zurück mehr.«
    »Und das heißt?«, bohrte ich nach. Die Gefühle in mir waren farbig. Nicht nur schwarz und schwer. Sie flammten. Sie nahmen ein wildes Orange an, feurig – Hoffnung und Angst.
    Mein Vater starrte gebannt auf die perfekt geformten Körper der Show an der Wand.
    »Was heißt das?«, schrie ich ihn an.
    Er zuckte die Achseln. »Sie entfernen ihn natürlich.«
    »Wie, entfernen? Er kommt ins Genesungshaus? In Quarantäne?«
    »Mit einer ansteckenden Krankheit? In Neustadt? Du weißt doch, wie es ist, Peas. Um den neuen Menschen zu schützen, muss alles Kranke raus.«
    »In die Wildnis«, flüsterte ich, denn endlich begriff ich. »Sie stoßen ihn aus, in die Wildnis? Deinen Kollegen, Papa?«
    »Du bist aber doch nicht mit ihm in Berührung gekommen?«, fragte meine Mutter besorgt.
    »Nein, natürlich nicht. Wir haben sofort die Türen zu Labor Siebzehn geschlossen und den Notdienst alarmiert. Er wurde in einem geschlossenen Wagen weggebracht. Sie werden ihn noch kurz zur Beobachtung dabehalten – alles, was wir über Morbus Fünf lernen, ist von unschätzbarem Wert – und dann schicken sie ihn durchs Südtor. Kurz vor Sonnenuntergang, soviel ich weiß. Bevor die Krankheit richtig ausbricht.« Mein Vater hielt meiner Mutter die Tasse hin, und sie schenkte nach. Immer noch trug er den dünnen Schaumbart auf der Oberlippe.
    »Mach dir keine Gedanken deswegen«, meinte sie heiter. Sie betrachtete sein Gesicht und unterdrückte ein Kichern. »Es wird schon alles gut.«
    Ich sprang auf. »Das stimmt nicht!« Ich wollte nicht laut werden, aber es brach einfach aus mir heraus. Die flammenden Gefühle züngelten hoch. »Nichts wird gut! Sie schmeißen ihn raus, in die Wildnis! Zu den Kranken und Kriminellen! Er wird sterben, Mama! Und euch ist das völlig egal! Es geht um Luther! Mensch,

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