Wild (German Edition)
weißen Blüten gaben ihr den Anschein eines Gartens; ob das warme Vanillearoma in der Luft von ihnen stammte oder aus der Klimaanlage strömte, wusste ich nicht. Vanille mit einem Hauch Zitronenfrische, Beruhigung mit einem Spritzer Hoffnung. Klänge waberten durch den Raum, Meeresrauschen, und der Text des Glücksstromliedes lief in verschnörkelter Schreibschrift über die Wände, eine Endlosschleife, aus der das Wort »Glück« herausstach.
Star und ihre Eltern waren schon da und hatten in den bequemen Plüschsofas Platz genommen, die verteilt in der Halle herumstanden und den Eindruck lässigen Wartens vermittelten. Auf runden Tischen standen dickflüssige Getränke bereit, die das Wohlbehagen noch vertieften.
»Gib dich in den Glücksstrom«, leierte eine gefühlvolle Frauenstimme ins Meeresrauschen hinein, »öffne die Augen, geh in die Sonne.«
Während ihre Eltern und noch ein paar Erwachsene, die ich nicht kannte, den pfirsich- und melonenfarbigen Cocktails zusprachen, sprang Star auf und stürzte auf mich zu. »Ich dachte schon, du hättest es vergessen!« Star in einem rosa Kleid mit weißer Spitze. Sie sah darin aus, als wäre sie sieben.
In meinem dunkelblauen Rock und der dazu passenden Bluse kam ich mir unangemessen düster vor. »Lucky ist noch nicht da?«
»Schon zur Stelle.« Meine Freunde waren dicht hinter mir, aber ich war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ich sie nicht bemerkt hatte. Moon hing an Luckys Arm und lächelte mir zu. Gleich fühlte ich mich etwas besser. In Moons Gegenwart hatte ich nie das Gefühl, unpassend angezogen zu sein, und was immer nicht mit mir stimmte, verlor an Gewicht. Lucky hingegen vermied es, mich anzusehen.
Star war heute sehr gefasst. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen, aber ihre Stimme klang fest. »Möchtet ihr ihn sehen? Ihr müsst nicht, wenn ihr nicht wollt.«
Ob ich den toten Phil sehen wollte? Nein. Nein, nein und nochmals nein.
Aber Lucky sagte: »Ja, dafür sind wir doch hier«, und so folgte ich Star und den anderen in die Vorkammer. Gleich dahinter war der Verbrennungsofen. Auch hier plätscherte das ewige Glücksstromlied aus den Lautsprechern. Seidenblumen in jeder Ecke. Der Sarg stand auf einem Tisch. Beim Hereinkommen sah es aus, als würde Phil darin schlummern, lebendig, die Wangen rosig gefärbt, die Augen geschlossen.
»Er schläft«, sagte Moon leise. »Sieht jedenfalls so aus. Das ist schön, nicht? Ich glaube, Sterben ist gar nicht so schlimm.«
Ich konnte mich nicht rühren. Stumm stand ich da und starrte auf den Leichnam des Jungen. Trotzdem sah ich ihn nicht. Stattdessen schob sich Martys Bild vor meine Augen. Schwach und erwartungsvoll … ob er die Operation gut verkraftet hatte? Mir war dumpf bewusst, dass ich Star trösten sollte, aber es war Lucky, der den Arm um ihre Schultern legte, nicht ich.
»Er kommt nie mehr zurück«, flüsterte sie.
Ich schob Martys angstvolle Augen beiseite. In der letzten Nacht hatte ich sogar von ihm geträumt, bevor Orion mich geweckt hatte. Aber Phil hatte es nicht verdient, dass man ihn nicht beachtete. Ich widmete ihm so viel Aufmerksamkeit, wie ich konnte. Die Hände, die über dem Laken zusammengelegt waren und eine langstielige künstliche Rose hielten. Die rosa gefärbten Wangen, die ihn so lebendig aussehen ließen. Er war geschminkt, klar, aber wie hatten sie seinen gebrochenen Schädel so perfekt hinbekommen? Seine Haare waren glatt gekämmt und glänzten. Als hätte er nie einen Unfall gehabt, wäre nie vom Gerüst gestürzt. Keine Narbe. Keine Pflaster. Wie um alles in der Welt hatten sie die klaffende Wunde verschwinden lassen?
»Das ist nicht Phil«, sagte ich laut.
»Was?« Lucky ließ Star los und beugte sich über den Sargdeckel. »Natürlich ist er das! – Oh.«
»Du weißt, was ich meine?«
»Ja«, sagte er leise. »Dieser Junge da hat nie einen Unfall gehabt. Wir haben ihn gesehen, auf den Steinen. Und nachher im Genesungshaus. Das hätten sie nie im Leben wegschminken können.«
»Was?«, fragte Star. Sie stützte sich am Sarg ab, ihre Hände zitterten. »Das ist nicht Phil?«
»Eine Puppe?«, riet ich. »Aber wie haben sie die so schnell perfekt hinbekommen?«
Lucky beugte sich über den Sarg, tastete ihn ab, bückte sich und spähte seitlich hinein. »Wird dieser Deckel eigentlich mitverbrannt? Oder machen sie ihn ab?«
»Keine Ahnung. Die Familie hält sich in der Halle auf, wenn sie den Toten in die Feuerkammer bringen.«
Er klopfte darauf herum.
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