Wild (German Edition)
Ersatzkaffees schwängerte die Luft. Mein Vater saß am Tisch, der für vier gedeckt war. Auf dem Fernsehbildschirm in der Wand traten gerade die schönsten Models aus Neustadt und Glücksstadt gegeneinander an, untermalt von der Melodie des Glücksstromliedes.
»Na, Peas, guten Morgen.« Ich merkte sofort, dass er nicht ganz so gut gelaunt war wie meine Mutter. »Das kommt etwas unverhofft, muss ich sagen.«
Ich hätte ihnen liebend gerne erzählt, was es mit dem Jungen in meinem Zimmer auf sich hatte, und einen Moment lang war ich wirklich in Versuchung, mit der Wahrheit herauszuplatzen. Und sie zu fragen, was sie an meiner Stelle tun würden. In die Wildnis fliehen, um die nächste Glücksgabe zu vermeiden? Aber was, wenn alles, was mich dort erwartete, tausend Mal schlimmer war als das Leben hier? Was nützte es mir, wenn ich klar im Kopf war und dafür an irgendeiner Krankheit starb, sobald ich etwas Dreckiges anfasste oder verseuchtes Wasser trank? Würde mein Weggehen sie überhaupt stören? Vermutlich würden sie nicht anders reagieren als Stars Eltern – mit Gelassenheit, die Traurigkeit abgemildert durch die rosarote Wolke. Doch ganz sicher war ich mir nicht. Denn die bloße Vorstellung, sie zu verlassen, bewirkte, dass sich alles in mir schmerzhaft verkrampfte, und ich konnte nicht glauben, dass irgendjemand mit einem heiteren Lächeln über den Verlust eines Kindes oder eines Elternteils hinweggehen konnte.
»So ein prächtiger junger Mann«, urteilte meine Mutter freudig.
»Er wurde mir nicht zugeteilt«, sagte ich. »Es ist nichts Ernstes.«
»Guten Morgen, alle zusammen.« Da stand er im Türrahmen, mein angeblicher Freund, noch etwas zerknittert, das schwarze Haar zerzaust und die Stirn vor Anspannung gerunzelt. Leute wie er hatten ihre DNS nicht der Suche nach Schönheit zu verdanken, doch trotz seines mächtigen Nackens, in dem sein Hals nahezu verschwand, seines ausgeprägten Kiefers und der großen Nase sah er gar nicht übel aus. Seine Augen unter den schwarzen Brauenbögen waren von einem erstaunlichen, funkelnden Grün. Anders als bei so manch anderem Sportler hatten ihm seine Geburtstechniker auch kein geschrumpftes Hirn verpasst. Orions Eltern mussten ein Vermögen für dieses Kind bezahlt haben. Kein Wunder, dass sie Schulden hatten und sehnsüchtig auf seine Profi-Karriere warteten. Doch letztendlich war Geburtsdesign auch immer ein Glücksspiel. Immer wieder gingen die Versuche, Menschen für bestimmte Zwecke zu designen, völlig daneben. Manchmal fehlte nur ein winziges Detail. Zum Beispiel ein oberschlaues Kind mit der Gabe, sich überall unbeliebt zu machen – wie Merkur in meiner Klasse. Oder ein Athlet ohne Ehrgeiz, wie Schalom, der die körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, beim Joy ganz weit oben mitzuspielen. Oder auch Orion, wie ich eben erst hatte feststellen müssen: Ein Junge, der alles erreichen konnte und der doch die erste Gelegenheit ergriff, um sich davonzumachen.
Also hätte auch er gut in meine Versagerklasse gepasst. Das machte ihn sehr sympathisch in meinen Augen, und obwohl er nicht direkt mein Typ war, fand ich die Vorstellung, ich hätte was mit ihm, nun nicht mehr ganz so abwegig.
»Möchten Sie auch Toast, Zeus?«, fragte meine Mutter und strahlte ihn wieder an, als würde sie ihn am liebsten als ihren Schwiegersohn willkommen heißen. Das musste sie unbedingt in den Griff bekommen.
»Danke, gerne.« Er humpelte auf den Tisch zu. »Ich muss Sie warnen, ich bin mit einem mächtigen Appetit auf die Welt gekommen.«
»Und, Mam, er heißt Orion.«
»Orion Sommer«, stellte er sich vor und verbeugte sich artig.
Die Situation kam mir so absurd vor, dass ich am liebsten laut gelacht hätte.
»Was ist mit Ihrem Bein?«, fragte mein Vater, ganz der Mediziner.
Manchmal vergaß ich, dass er Arzt war, weil er im Labor arbeitete und keine Patienten behandelte. In einer Stadt ohne Kranke gab es nicht viel zu kurieren, die meisten Ärzte arbeiteten in der Forschung.
»Ach, nichts. Bloß ein bisschen verknackst.«
»Zeigen Sie her«, verlangte er.
»Danke, nicht nötig.«
»Sei brav, Orion«, sagte ich tadelnd. »Zeig es ihm. – Aber das bleibt unter uns, Paps. Wenn rauskommt, dass er gesundheitliche Probleme hat, nehmen sie ihn aus dem nächsten Spiel, und das ist ungeheuer wichtig für die Schule.«
Als Orion das Hosenbein hochzog, erschrak ich darüber, wie dick der Knöchel angeschwollen war.
»Frühlingswetter!«, fluchte meine Mutter. Mehr hatte
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