Wild (German Edition)
hatte, war bei ihm angekommen. Er wollte immer noch weg.
Das hätte ich mir denken können. Sportler waren ja nun nicht gerade für ihre Gehirnmasse berühmt.
»Hast du in Erwägung gezogen, dass es eine Falle sein könnte?«, fragte ich. »Um uns wieder zurück ans Tor zu locken, wo sie uns festnehmen können?«
Orion musterte mich erfreut. »Natürlich«, sagte er. »Ich muss diese Information vorher überprüfen, das ist klar. Und wir werden verdammt vorsichtig sein müssen.«
Wir.
Luckys Gesicht verriet mir mehr, als ich wissen wollte. Seine Augen brannten, und um seine Lippen zuckte dieses fremde wilde Lächeln.
Die einzige Verkäuferin, die um diese Zeit noch arbeitete, versuchte gerade eine junge Frau, vielleicht zehn Jahre älter als wir, in Sachen Mode zu beraten. Der strenge farblose Hosenanzug, den die blonde Kundin trug, missfiel der Kids-for-freedom-Angestellten, und mit sanftem Druck versuchte sie, ihr Opfer dazu zu bewegen, etwas Gewagteres anzuprobieren – vorzugsweise in Rosa oder Lavendel.
Moon zog mich kichernd weiter. Die Verkaufsfläche, die sich über mehrere Etagen erstreckte, schien mir wie ein undurchschaubares Labyrinth, aber meine Freundin fand sich darin mit schlafwandlerischer Sicherheit zurecht.
»Hier. Das müsste Orion stehen, oder? Er ist wahnsinnig gut gebaut, an dem, was ich Lucky empfehlen würde, können wir uns nicht orientieren. Orion scheint immer alle Klamotten zu sprengen. Wie wäre es damit?«
Ein helles Hemd mit einem Stich in irgendeine Bonbonfarbe.
Ich dachte an Orions Wunde, an das Blut auf seiner glatten Haut. An das Tor und die Wildnis – Gras und Bäume. Verseuchtes Wasser. Gefährliche Menschen mit Krankheiten, die ihn angreifen könnten.
»Nein«, sagte ich und wählte Schwarz. Zu meiner Überraschung gab es tatsächlich zahlreiche Kids-for-freedom-Sachen in dunklen Farbtönen und ohne Glitzersteinchen.
Selbst wenn die Wunde wieder anfing zu bluten, würde man den Fleck auf diesem Stoff nicht sofort sehen. Und in der Dunkelheit dort draußen – ich konnte nicht anders, als mir die Wildnis dunkel vorzustellen, wie ein Zimmer, durch das man sich blindlings hindurchtastete, ohne an Wände zu stoßen –, würde es ihn quasi unsichtbar machen.
»Zwei davon.« Ich nahm die größten, die dort hingen, und hoffte, dass Orion hineinpasste. »Und er braucht eine Jacke.«
Hingerissen starrte ich auf die Jacken, die ein paar Meter weiter hingen. Keine Verzierungen, kein Schnickschnack. Schlicht und edel. Genau mein Geschmack.
»Hast du eine Ahnung, was so ein Teil kostet?« Der Preis erschütterte selbst Moons Gelassenheit. »Außerdem ist es warm draußen.«
»Ja, aber nachts kann es schon mal recht kühl werden.«
Da draußen in der Wildnis gab es keine Häuser, oder? Keine Autos. Keine Straßen. Keine Schule. Es gab nichts.
Mich schauderte bei der Vorstellung, dass Orion in dieses finstere Nichts hinausgehen wollte.
»Ich möchte keine Spielverderberin sein, aber das sprengt meinen Kreditrahmen«, sagte Moon. »Tut mir leid, Süße. Außerdem brauche ich noch Schuhe.«
Im Gang zwischen den Präsentierregalen erschien die Kundin, die sich zu einem langen, strassbesetzten Kleid in Orange hatte überreden lassen.
»Nehmen Sie das lieber in Braun!«, rief Moon zu ihr herüber. »Der Schnitt ist gut.«
Was konnte ich tun, um Orion aufzuhalten? Nichts. Er war wie ein Sturm, der über alle Argumente hinwegwehen würde. Aber vielleicht konnte ich wenigstens Lucky retten. Wie konnte ich es schaffen, dass er blieb?
Die blonde Frau kam ein paar Schritte näher. »Steht mir diese Art von Kleid wirklich? Ich bin eigentlich nur medizinische Assistentin in der Unfallabteilung, aber mein Chef gibt eine Party und da will ich nicht hinter den anderen zurückstehen.«
»Sie kennen sich mit Unfallopfern aus?« Moon setzte ihr breitestes Lächeln auf. »Das trifft sich aber gut. Ich kann Sie gerne beraten, wenn Sie möchten.«
»Das wäre lieb. An deiner Kleidung sieht man, dass du einen guten Geschmack hast.«
Bald plauderten die beiden wie die allerbesten Freundinnen. Ich wunderte mich über gar nichts mehr, als Moon ihre neue Bekannte anschließend mit in unser Appartement einlud, um sich »das Problem des Freundes der Kleinen da« anzusehen.
»Hältst du das für klug, sie da mit reinzuziehen?«, zischte ich Moon zu.
»Ich finde sie nett. Und Orion braucht nun mal einen Arzt.«
Happiness Zuckermann, so der Name unserer Bekanntschaft, war keine richtige
Weitere Kostenlose Bücher