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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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vorstellen, wie Orion mit den Verbrechern durchs Tor gehen will«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen. »Es werden Wachen da sein. Sie werden ihn doch nicht einfach durchgehen lassen. So naiv sind wir auch nicht mehr.«
    »Er war vorsichtig. Wir waren es, die die Wachen aufmerksam gemacht haben«, sagte Lucky heiser und ging über das Dach davon. Vor dem Hintergrundgemälde aus Duft und Farben kam er mir größer vor als sonst. Groß und schlank, und die Sonne ließ sein braunes Haar rotgolden glitzern. Sein Mund, weich und sanft geschwungen, war unheimlich verlockend, und mein Herz setzte aus. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, warum sich die Mädchen so gerne von ihm küssen ließen.
    Hastig wandte ich mich ab und inspizierte den Boden unter meinen Füßen. Er war schwarz und funkelte leicht. Ich schabte mit dem Schuh darüber, doch die kleinen Steinchen ließen sich nicht ablösen.
    Dort, wo Lucky stand, überzog ein grüner Teppich das Flachdach. »Nett«, sagte ich, doch Lucky bückte sich und berührte den Boden.
    »Das ist keine Farbe. Ich glaube, das ist echt. Fühlt sich irgendwie komisch an.«
    »Echt? Du meinst, das sind Pflanzen?«, fragte ich entsetzt.
    »Ja, aber ich kann mich auch täuschen.«
    Wahrscheinlich war hier oben schon sehr lange niemand mehr gewesen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob die Dächer desinfiziert wurden; irgendwie hatte ich das für selbstverständlich gehalten. Aber, ganz ehrlich, ich war noch nie auf die Idee gekommen, hier oben könnte etwas wachsen.
    »Käfer oder so was sehe ich nicht«, stellte Lucky fest, nachdem er ein paar Quadratmeter abgesucht hatte. Vorsichtshalber rührte ich mich nicht von der Stelle.
    »Wir könnten krank werden und sterben.« Er klang überhaupt nicht deprimiert, eher neugierig. »Fändest du das schlimm?«
    »Dann würden wir wieder in den Glücksstrom eintauchen, oder?«
    »Ich weiß nicht«, meinte er. »Glaubst du, den gibt es wirklich? Und wenn wir tot sind, tragen wir bei zum Glück der anderen?«
    »Keine Ahnung.« Todesmutig setzte ich einen Fuß vor den anderen. An manchen Stellen war der Teppich mehrere Zentimeter dick und der Bewuchs sah aus wie aus üppigem Samt. »Hier ist sogar Moos. Das kenne ich von den Bildern meiner Mutter.« Behutsam strich ich darüber. Es war nicht so weich, wie es aussah. Ich erwartete, meine Haut würde jucken und brennen und Blasen schlagen, aber nichts passierte. »Scheint harmlos zu sein.«
    »Da drüben!« Lucky zeigte auf einen Schornstein, der zu einem erhöhten Teil des Dachs gehörte. »Da ist die Aussicht noch besser, habe ich gestern Abend festgestellt.«
    Er kletterte an einer Leiter höher hinauf. Ich beeilte mich nicht, ihm nachzukommen, sondern untersuchte weiter das Moos. Es blühte; winzige, gelbliche Laternen auf Miniaturstengeln. Auf einmal wollte ich weinen und wusste nicht warum. Vielleicht wegen Star und Phil und wegen Luther in Phils Sarg – wegen ihnen allen. Wegen uns. Weil der Himmel sich rot verfärbte, als würde er glühen. Unten in den Straßenschluchten wäre es ein ganz gewöhnlicher Morgen gewesen, einer von vielen.
    »Hey, Pi.«
    Ich drehte mich um. Lucky wirkte verlegen, er versteckte etwas hinter seinem Rücken.
    »Was hast du da?«
    »Hier. Willst du die?« Es war eine Blume. Sie war nicht desinfiziert, obwohl sie echt war, und mir war, als hätte ich nie etwas Gefährlicheres getan, als sie aus seiner Hand entgegenzunehmen. Die Blütenblätter hatten eine unwirkliche, fast durchscheinende Struktur, wie winzige, hauchdünne Fingernägel, und sie waren blassviolett. In der Mitte thronte ein stecknadelkopfgroßes Kissen, gelblich mit winzigen Staubgefäßen darauf. Der Stängel fühlte sich erstaunlich fest an, obwohl er so dünn war, er war biegsam und besaß einige kleine, ledrige Blättchen. Ich hielt sie dicht unter meiner Nase und atmete den Duft tief ein, der so fein und lieblich war und keinem mir bekannten Aroma ähnelte.
    »Ich hoffe, du steckst dich daran nicht mit irgendwas an«, sagte Lucky verzagt.
    »Ich habe keine Angst. Sie ist wunderschön«, sagte ich.
    »Wahrscheinlich gibt es gar nichts Schönes ohne Gefahr.«
    Um seine Mundwinkel zuckte es. Wie merkwürdig, ihn so verzweifelt zu sehen, so flehend. »Ich will mit Orion mitgehen.«
    »Ja«, sagte ich leise. »Das habe ich mir schon gedacht.«
    »Komm mit, Pi. Bitte.« Er nahm meine Hände in seine. »Ich will, dass du mitkommst.«
    Mein Herz hämmerte wie verrückt. »Aber es geht in die

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