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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Wildnis. Die Wildnis ist wie ein dunkles Zimmer ohne Wände.« Ich wusste selbst, dass ich Unsinn redete, aber ich konnte nicht aufhören. »Dort draußen ist alles, was mir Angst macht. Ich will ja weg, Lucky, aber können wir nicht irgendwo anders hin?«
    Er lächelte nur. »Ach, Pi. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes anbieten. Aber es gibt nur die Wildnis. Nur Neustadt und den Glücksstrom … oder die Wildnis. Wütende Wachen, Schüsse, Verwundungen, Kämpfe und am Ende möglicherweise Krankheit und Tod. Ich weiß, das klingt nicht besonders verlockend.«
    »Sie werden auf uns schießen, wenn wir durchs Tor rennen«, sagte ich.
    »Ja, wahrscheinlich.«
    »Dies ist einer der letzten Tage unseres Lebens.«
    »Kann gut sein.« Sein Lächeln ließ etwas in mir schmelzen.
    »Orion wird erschossen werden.«
    »Du solltest Orion nicht unterschätzen. Um ihn mache ich mir am wenigsten Sorgen.« Sein Lächeln wurde weich, als er die Hand ausstreckte und meine Wange berührte. »Ich habe Angst, dich zu verlieren, Pi. Angst, dass ich dich eines Tages wieder ansehen könnte, ohne dich zu sehen.«
    Seine Worte verwirrten mich. Rasch stellte ich die nächste Frage.
    »Selbst wenn wir es über die Grenze schaffen würden, was dann?«
    »Keine Ahnung, was uns da drüben erwartet. Hauptsache, du bist bei mir.«
    »Aber …«
    Erst, als er mich küsste, verstand ich. Es war ein Kuss, wie ich ihn noch nie bekommen hatte. Nur seine sanften, warmen Lippen auf meinen. Er küsste mich vorsichtig, zärtlich, doch dahinter spürte ich eine Leidenschaft, die mich erschreckte – aber vielleicht war das, was ich fühlte und worüber ich erschrak, meine eigene Leidenschaft. Technisch gesehen unterschied er sich gar nicht mal so sehr von jenem Kuss, den Lucky mir beim Flaschendrehen verpasst hatte, und doch war es völlig anders. Weich und zärtlich und voller Gefühl, und etwas in mir schien zu versinken, als hätte jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Etwas sank tiefer und tiefer und landete auf dem Grund meines Herzens.
    Und Moon?, wollte ich fragen, aber ich fragte nicht, denn ich wollte jetzt gerade nicht an sie denken.
    Wir blieben stehen, dicht voreinander, so nah, dass seine Stirn gegen meine stieß. Ich fühlte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht. Keiner von uns sprach. Es war nicht nötig. Wir kannten uns schon fast unser ganzes Leben lang, und doch war es, als wären wir uns gerade eben das erste Mal begegnet. Als hätte ich nie zuvor in seine Augen geblickt. Ich nahm seine Hand und betrachtete sie. Auch diese Hand war neu, mit langen Fingern und gerade geschnittenen Nägeln, unter denen sich etwas Grün angesammelt hatte.
    Auf einmal hatte ich das Recht, diese Hand zu berühren und zu untersuchen und festzuhalten. Er ließ es zu, doch mit der Linken strich er mir durchs Haar.
    »Das wollte ich schon immer mal tun«, flüsterte er. Und dann, ganz leise in mein Ohr: »Du warst die Erste auf meiner Liste, Pi. Ich wollte immer bloß dich.«
    »Du warst der Einzige auf meiner Liste«, flüsterte ich zurück. »Aber ich dachte, du und Moon … Sie ist so hübsch.«
    Er lächelte sein zauberhaftes Lächeln. »Weißt du denn nicht, wie schön du bist? Moon ist wie eine Schaufensterpuppe. Aber du … kein Mädchen ist wie du, Pi. Das wusste ich schon immer, selbst als ich noch nicht wirklich fühlen konnte. Was meinst du, warum ich dich nie geküsst habe? Weil du mir schon immer mehr bedeutet hast als alle anderen.«
    »Doch«, sagte ich leise, »du hast mich geküsst, weißt du nicht mehr?«
    »Weil ich mir beweisen wollte, dass es nichts ausmacht, dass es keine Bedeutung hat. Aber die hatte es. Und da war ich noch im Glücksstrom … Was meinst du, was ich jetzt empfinde?«
    Ein Schauer lief durch meinen Körper.
    »Komm mit mir mit, Pi. Ich will lieber ein paar Tage mit dir und meinen eigenen Gefühlen, als ein ganzes Leben im Glücksstrom mit Menschen, die ihr Glück per Injektion verordnet bekommen.«
    Ein wolkiges Gebirge nach dem anderen türmte sich am Horizont auf, bildete sich um, formte neue Gipfel und Täler. Glühende Streifen zerrissen die watteartigen Berghänge. Der Himmel bauschte sich auf, flammte, loderte. Das Licht veränderte sich, spielte wie ein Maler mit der Leinwand, goss immer neue Farbnuancen ins Bild. Ich musste an meine Mutter denken und schnupperte unwillkürlich nach dem Aroma, die sie für diese Pracht gewählt hatte. Welchen Kontrast hätte sie geschaffen? Etwas Schlichtes, Unerwartetes.

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