Wild und frei
Höchstwahrscheinlich würde der Kapitän dein Geld nehmen und deinen Wilden beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten über Bord werfen.”
“Meinen Wilden?” Ein bitteres Lächeln verzog Rowenas Mundwinkel. “Ach so, demnach ist er jetzt also
mein
Wilder?”
“Warum nicht, da du dich seiner Sache angenommen zu haben scheinst!” Sir Christopher sah das Häppchen Fleisch auf seiner Messerspitze finster an, führte es dann zum Mund und begann, es mühsam mit seinen wenigen Zähnen zu zerkauen.
“Also gut, solange ich einen Anspruch auf ihn habe, will ich, dass er aus dem Keller herauskommt”, erwiderte Rowena. “Es gibt reichlich leere Zimmer in diesem Haus. Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihn in einen warmen, trockenen Raum zu sperren und ihm genügend Essen und Bettzeug zu geben.”
Sir Christopher spülte die Fleischreste mit einem Schluck Ale herunter. “Was? Damit er aus dem Fenster springt oder die erste arme Seele angreift, die hereinkommt, um ihm etwas zu essen zu bringen? Nein, Rowena, solange die Kreatur eine Gefahr für sich und andere ist, wird sie hinter Gittern bleiben. Und was dich anbelangt, du darfst ihm nicht zu nahe kommen, und auch keine andere Frau in diesem Haus. Überlass es Thomas und Dickon, sich um ihn zu kümmern.” Er rückte vom Tisch ab, sein Stuhl schrammte dabei über den Steinfußboden. “Und überlass es mir, ihn zu zähmen. Das ist mein Ernst.”
“Zähmen?” Rowena hörte auf, die Teller abzuräumen, etwas, das sie oft übernahm, wenn das Abendessen länger dauerte und die Diener sich schon zurückgezogen hatten. “Ihr sprecht von ihm, als ob er ein wildes Tier wäre!”
“Genau das ist er auch.” Sir Christopher erhob sich erschöpft. “Ich war nicht immer der tattrige Greis, den du jetzt vor dir siehst, meine Liebe. Gib mir nur etwas Zeit. Glaub mir, ich weiß, wie man ein Tier zähmt – und einen Mann.”
Black Otter hielt die Eisenstangen umklammert und versuchte angestrengt, in der undurchdringlichen Finsternis, die ihn umgab, irgendetwas zu erkennen. Er bemühte sich umsonst. Genauso gut hätte er blind sein können.
Wie lange würden sie ihn hier festhalten? Die Zeit verlor jede Bedeutung, wenn das Sonnenlicht verschwunden war. Im Bauch des großen Schiffes hatte er zumindest gelegentlich einen Lichtschimmer von oben gesehen. Er hatte die Bewegungen und die Rufe der Männer auf Deck über sich gehört, und mit der Zeit war es ihm gelungen, Tag und Nacht auf Grund der Geräusche zu unterscheiden.
Hier jedoch gab es nichts außer Dunkelheit und eisiger Kälte, die bis ins Mark drang. Nichts außer dem Getrippel der Ratten und dem entfernten Tröpfeln von Wasser. Außer seiner flammenden Wut war da nichts, was ihn davon abhielt, wahnsinnig zu werden.
Er dachte an die beiden kräftigen Männer, die ihn durch den großen Wigwam und die dunkle Treppe heruntergeschleift hatten. Dann erschienen vor seinem inneren Auge der blasse, dicke Mann mit der Fackel und der Alte, der Häuptling aller Weißen. Er erinnerte sich an die Frau, groß wie ein Mann, aber von einer beunruhigenden Anmut. Der Rock ihres merkwürdigen Gewandes hatte sich um ihre Beine gebauscht wie der umgedrehte Kelch einer riesigen dunklen Blüte. Auf einen nach dem anderen richtete er seinen Zorn, ließ ihn hell auflodern in der kalten Finsternis. Selbst sie. Selbst die Frau. Er hasste sie alle.
Aber Black Otter ermahnte sich, dass Zorn allein ihn nicht hier herausbringen würde. Dafür waren ein kühler Kopf und die Schlauheit eines Fuchses vonnöten.
Er hatte seine kleine Gefängniszelle von oben bis unten untersucht und mit den Fingern das Stroh, die Wände und die Verankerungen der verriegelten Tür abgetastet. Die Einfassung war aus massivem Stein ohne die kleinste Nische, die er zu einer Öffnung hätte weiten können. Auch die Gitterstäbe waren zu stabil und standen zu eng zusammen, sodass sich nicht einmal ein Kind hindurchquetschen konnte. Seine einzige Chance zur Flucht lag darin, den Augenblick auszunutzen, wenn seine Entführer die Tür öffneten. Dafür musste er ständig wachsam sein.
Die eisernen Handschellen scheuerten die verkrusteten Schorfschichten an seinen Hand- und Fußgelenken auf, und frisches Blut sickerte daraus hervor, als er in die hinterste Ecke kroch und sich dort an der Wand hinkauerte. Den Wasserkrug hatte er schon vorher gefunden und einen vorsichtigen Schluck genommen. Das Wasser war frisch und kühl, und nach dem fauligen Zeug, das er auf dem
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