Wild wie das Meer (German Edition)
derart kalte Bemerkung sie verletzt. Aber mittlerweile verstand sie diesen Mann ein wenig besser. Als Zehnjähriger hatte er weitaus mehr verloren als nur seine Kindheit. Sein Vater war vor seinen Augen ermordet worden. Und das Verhalten, das ihr schon bei der ersten Begegnung an ihm aufgefallen war, war die Folge dieses einschneidenden Erlebnisses. Dieser Mann hatte ein vernarbtes Herz.
Sie war hin- und hergerissen und war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Ebenso wenig vermochte sie zu sagen, ob sie Devlin bedauern sollte, aber noch während sie darüber nachsann, spürte sie, dass sie Mitleid mit ihm hatte.
„Virginia, wenn du mich weiterhin so anschaust, komme ich mir wie ein Insekt unter einer riesigen Lupe vor.“
Ihr Herz raste stürmisch in ihrer Brust. „Willst du mir nicht verraten, warum du uns gestern Abend keine Gesellschaft geleistet hast?“
„Ich wollte euch beiden ermöglichen, ungestört eine letzte gemeinsame Abendmahlzeit einzunehmen“, erwiderte er spöttelnd.
Sie blinzelte. „Meinst du das ernst?“
„Mein Bruder liebt dich, Virginia“, rief er aus. „Mittlerweile dürfte das auch dir aufgegangen sein, nach der vertraulichen Szene.“
Ihr blieb die Luft weg. „Was?“
Er schenkte ihr ein Lächeln, doch es war freudlos, und sie merkte, dass er wütend war.
Spielte er da etwa auf das Gespräch an, das sie noch vor dem Dinner mit Sean auf der Terrasse geführt hatte? Hatte er womöglich gelauscht? „Welche vertrauliche Szene?“
Er stieß ein schroffes Lachen aus. „Ich bitte dich! Natürlich die Szene, als du meinen Bruder umarmt hast, oder hat er dich im Arm gehalten?“
„Du hast uns also beobachtet?“, erboste sie sich, richtete sich steif auf und spürte, dass ihre Wangen glühten.
„Ich habe niemanden beobachtet, Virginia“, entgegnete er scharf. „Ich brauchte ein wenig frische Luft, aber ihr beide wart so vertieft in eure Zweisamkeit, dass ich es vorzog, im Salon zu bleiben. Der Abend war wie geschaffen für ein hübsches Liebespaar.“
Ihr blieb der Mund offen stehen. Ihre Gedanken überschlugen sich. „Wie viel hast du mit angehört?“
„Ich habe gar nichts gehört“, sagte er in demselben scharfen Tonfall. „Hast du seine Küsse genossen?“, fragte er unvermutet.
Es verschlug ihr schier den Atem. Und sie begriff allmählich, wie Sean und sie auf ihn gewirkt haben mussten – Devlin hatte sie für Liebende gehalten, die sich lange umarmt hatten. „Was gestern Abend geschehen ist, betraf nur Sean und mich“, brachte sie gefasst hervor, obwohl sie sich noch wie benommen fühlte, „und geht dich nichts an.“
„Aber ich billige die Verbindung“, sprach er. „Das habe ich immer getan, von ganzem Herzen.“
Sie verspannte sich, denn seine Worte schmerzten. Dann entsann sie sich, dass er gesagt hatte, Sean liebe sie – und damit lag er richtig. Sie starrte ihn an. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Allein schon bei dem Gedanken hätte sie beinahe gelacht. Eifersucht entsprang für gewöhnlich Zuneigung oder Liebe. Diesem Mann aber lag nichts an ihr, mochte Sean da auch anderer Meinung sein. Mit Bedacht sagte sie: „Sean ist nur ein Freund, ein guter Freund.“
Er gab einen verächtlichen Laut von sich. Seine Miene war eigentümlich angespannt, als tobe in seinem Innern ein heftiger Kampf.
„Aber du hast recht. Unglücklicherweise empfindet er sehr viel für mich, nur kann ich seine Gefühle nicht erwidern.“
„Warum nicht?“
„Das fragst du?“, rief sie außer Atem, und dann wurde sie so wütend, dass sie die Hände zu Fäusten ballte. Sein Blick wanderte zu ihren verkrampften Händen, dann sah er ihr wieder in die Augen. „Ich bin keine Dirne. Oder hast du wirklich vergessen, dass du mir meine Unschuld genommen hast, Devlin?“
Er zuckte zusammen und hielt ihrem Blick stand. „Wie könnte ich das vergessen“, meinte er, „wenn du mich immer wieder daran erinnerst?“
Es juckte ihr in den Fingern, ihm erneut eine Ohrfeige zu verpassen, aber sie beherrschte sich. „Ich glaube, diese Nacht hat es mir unmöglich gemacht, mich jemals in Sean zu verlieben.“
„Warum?“
„Warum!“ Sie konnte es nicht fassen.
„Ja, ich frage dich nach dem Grund. Wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen, Virginia, und schon recht bald bist du frei und kannst gehen, wohin du willst. Du warst sehr traurig, Askeaton und Sean verlassen zu müssen.“
Virginia zögerte. Sie war immer noch ungläubig, aber sie verspürte auch Schmerz und Wut.
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