Wilde Chrysantheme
verlottert aussehende Frauen lehnten in einer Tür und tranken gähnend Ale. Ein wütender Aufschrei und ein krachendes Geräusch ertönten aus Tom Kings Kaffeehaus, als ein Mann zur Tür herausschoß, um in der Gosse zu landen, wo er in sich zusammensank, mit einem Ginkrug in den Armen.
Der Herzog hob eine Hand, und wie durch Zauberei erschien eine Mietdroschke. Tarquin schob Juliana mit Schwung in die Kutsche hinein, wobei er mit einer Hand unter ihrem Hinterteil nachhalf, dann stieg er rasch hinterdrein und ließ die Tür ins Schloß krachen.
Zum ersten Mal seit Stunden fühlte Juliana keine Angst mehr. Das dämmrige, muffig riechende Innere der Droschke war eine Zufluchtsstätte, die ihr wie das Paradies vorkam. Schwaches graues Licht drang durch die Fensteröffnungen und zeigte ihr das Gesicht des Herzogs, der ihr gegenübersaß und sie in nachdenklichem Schweigen betrachtete.
»Was denken Sie?« Ihre Stimme klang gepreßt und schwach, als ob die Ereignisse der Nacht sie aller Kraft beraubt hätten.
»Vieles«, erwiderte er, während er sich mit den Fingerspitzen über die Lippen strich. »Daß du das launischste, dickköpfigste, eigensinnigste Frauenzimmer bist, mit dem ich jemals das Pech hatte, zu tun zu haben… Nein, laß mich aussprechen.« Tarquin hob gebieterisch eine Hand, als Juliana empört den Mund öffnete, um sich zu rechtfertigen. »Daß Luciens Bösartigkeit und Verderbtheit heute abend selbst meine Erwartungen übertroffen hat, und vor allem, daß ich dich niemals mit ihm hätte zusammenbringen dürfen.«
»Dann tut es Ihnen also leid, daß Sie sich diesen teuflischen Plan ausgedacht haben?«
»Das habe ich nicht gesagt! Aber ich bereue es zutiefst, ausgerechnet
dich
in die Sache verwickelt zu haben.«
»Warum?«
Tarquin antwortete nicht sofort. Es lag ihm auf der Zunge, einfach zu sagen, daß sie nicht für die Rolle geeignet, nicht genügend nachgiebig war. Daß er nur einige wenige Stunden zuvor wahrscheinlich ganz anders reagiert hätte. Aber etwas war mit ihm geschehen, als er sie dort auf jenem Tisch im Schankraum hatte stehen sehen, hilflos den lüsternen, verderbten Blicken von Londons gewalttätiger Unterwelt ausgeliefert. Als er Zeuge wurde, wie jener gräßliche Mob ihre Frische, ihre Schlichtheit, ihre unbefangene Aufrichtigkeit zu zerstören drohte, war ein Zorn in ihm erwacht, stärker als alles, was er je zuvor empfunden hatte. Und zu seinem Unbehagen und seiner Verwirrung richtete sich dieser Zorn ebensosehr gegen sich selbst wie gegen Lucien.
»Warum?« wiederholte Juliana. »Bin ich zu wenig entgegenkommend?« Ihre Bitterkeit wuchs, als ihre panische Angst allmählich zurückwich. In gewisser Weise trug Tarquin ebensoviel Schuld an dieser grauenhaften Schändung wie Lucien. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen heute abend solche Unannehmlichkeiten verursacht habe.« Sie zupfte erschöpft an einem losen Fetzen Nagelhaut ihres Daumens und biß die Haut mit den Zähnen ab.
Tarquin beugte sich vor und zog ihre Hand von ihrem Mund. Er umschloß den malträtierten Finger mit seiner warmen Handfläche und musterte sie ernst in dem langsam heller werdenden Licht. »Ich bin bereit, einen nicht unbedeutenden Anteil der Schuld an den Ereignissen dieser Nacht auf mich zu nehmen. Aber du, Juliana, bist auch nicht ganz freizusprechen. Du hast dich mit Edgecombe eingelassen, um dich an mir zu rächen. Bestreitest du das vielleicht?«
Die Ehrlichkeit zwang sie, den Kopf zu schütteln. »Nein. Aber was hätten Sie anderes von mir erwartet?«
Die verzweifelte Frage entlockte ihm ein leises widerwilliges Schmunzeln. »Oh, ich hätte erwartet, daß du lieb und gehorsam bist und meinen Anordnungen Folge leistest. Töricht von mir, nicht wahr?«
»Sehr.« Juliana versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, aber seine Finger schlössen sich nur fester um ihre.
»Ich werde dafür sorgen, daß Lucien nie mehr in deine Nähe kommt. Habe ich dein Wort darauf, daß du ihn deinerseits meidest?«
»Wenn ich Fehler gemacht habe, lerne ich daraus, Sir«, erwiderte sie mit spitzzüngiger Würde.
»Und ich werde mich bemühen, aus meinen zu lernen«, entgegnete er trocken und ließ ihre Hand los, als die Droschke in der Albermarle Street zum Stehen kam. »Und vielleicht können wir uns nun endlich auf eine harmonische Zukunft freuen.«
Vielleicht,
dachte Juliana, allerdings ohne großen Optimismus. Mit Lucien war sie fertig, aber am heutigen Abend hatte sie dennoch den unumstößlichen Entschluß
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